Die Herrin von Avalon
einen geeigneten Platz für dich suchen. Das Leben beim Heer ist eine Herausforderung, mein Junge. Wer etwas im Kopf hat, kann ohne weiteres vom gemeinen Soldaten in eine verantwortungsvolle Stelle aufsteigen. Natürlich sind Beförderungen in einem so friedlichen Land wie Britannien selten. Aber wenn du deine ersten Erfahrungen gesammelt hast, kannst du dir vielleicht in einem der Grenzgebiete deine Sporen verdienen.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter und fügte lachend hinzu: »Wir werden allerdings sofort etwas unternehmen, damit du mehr wie ein Römer sprichst.«
Gawen nickte, und sein Großvater lächelte.
Im Verlauf der nächsten Tage begleitete er tagsüber Macellius durch die Stadt und abends las er ihm die Reden des Cicero vor oder die Berichte des Tacitus über Agricolas Feldzüge. Die Adoption wurde ordnungsgemäß vom Magistrat bezeugt, und Gawen erhielt die ersten Anleitungen zum Tragen einer Toga. Mit ihren sorgfältig drapierten Falten ließ sie die langen Gewänder der Druiden als Inbegriff der Schlichtheit erscheinen.
Alles war neu für Gawen, und so wurde er tagsüber von der römischen Welt völlig in Anspruch genommen. Nur im Schlaf sehnte sich sein Geist nach Avalon. In seinen Träumen sah er, wie Caillean die Neuankömmlinge unterrichtete. Neue Falten zeigten sich auf ihrer Stirn, und hin und wieder richtete sie den Blick stumm nach Norden.
Am Vorabend von Beltane schlief er unruhig. Er sah den Tor im Licht der heiligen Feuer. Aber so sehr er sich auch bemühte, Sianna bekam er nicht zu Gesicht.
Kurz nach der Sommersonnwende rief ihn Macellius in sein Arbeitszimmer. Er sollte zum Heer. Sein Großvater hatte eine Stelle für ihn in der Neunten Legion, der Hispanica, gefunden, die in Eburacum stationiert war.
Das lateinische Wort für Heer leitete sich von einem Begriff für Üben ab: ›exercitio‹. Schon in den ersten Tagen stellte Gawen fest, daß offenbar alle nichts anderes taten als ›Üben‹. Die Rekruten waren junge Männer, die sich durch besondere körperliche Fähigkeiten und Intelligenz auszeichneten. Aber es fiel jedem schwer, mit dem Marschgepäck zwanzig römische Meilen in fünf Stunden zurückzulegen. Nach dem langen Marsch kämpften sie in schwerer Rüstung mit dem Schwert und dem Pilum, oder es wurde exerziert; an anderen Tagen mußten sie befestigte Stellungen bauen.
Gawen nahm nur unbestimmt wahr, daß das Land in der Umgebung von Eburacum rauher war als die Hügellandschaft seiner Jugend. Viel mehr wurde ihm nicht bewußt, denn die Blasen an den Füßen, schmerzende Muskeln und eine bleierne Müdigkeit ließen ihm meist alles vor den Augen verschwimmen. Die Rekruten bekamen nur selten etwas von den regulären Truppen zu sehen. Gelegentlich machte ein Legionär eine spöttische Bemerkung, wenn sie schwitzend und keuchend vorbeimarschierten.
Erstaunlicherweise verdankte Gawen der Ausbildung bei den Druiden die Selbstdisziplin, die ihn durchhalten ließ, wenn andere junge Männer aus guten römischen Familien zusammenbrachen und nach Hause zurückgeschickt wurden.
Während ihrer Ausbildung hatten die Rekruten hin und wieder auch einen freien Tag. Dann durften sie sich ausruhen und konnten ihre Rüstung in Ordnung bringen oder in die Stadt gehen, die außerhalb der Festungsmauern lag.
Als Gawen nach so vielen Wochen Latein die melodische Sprache der Einheimischen hörte, traf es ihn bis ins Innerste. Er mußte sich eingestehen, daß er trotz allem ›Gawen‹ war und ›Gaius Macellius Severus‹ ein adoptierter Name blieb. Die Ladenbesitzer und Maultiertreiber unterhielten sich in seiner Gegenwart ungezwungen, denn keiner von ihnen ahnte, daß der große junge Mann mit dem typisch römischen Gesicht und der Tunika der Legionäre jedes ihrer Worte verstand.
Auf dem Marktplatz von Eburacum wurden nicht nur Waren verkauft und erworben. Er war auch ein Ort, um Gerüchte auszutauschen. Bauern der Umgebung boten ihre Erzeugnisse an, Händler stellten Waren aus allen Teilen des Reiches aus. Auffällig war jedoch, daß die jungen Männer der Briganten, die sonst mit großen Augen und unverhohlenem Mißtrauen die römischen Soldaten anstarrten, nicht zu sehen waren. Die Leute flüsterten von einem Aufstand, und es kursierten Gerüchte über ein Bündnis mit den Stämmen im Norden, um die römische Herrschaft abzuschütteln.
Gawen hörte das mit Unbehagen, aber er schwieg, denn die Gerüchte innerhalb der Festung waren noch beunruhigender als das, was außerhalb der
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