Die Herrin von Avalon
er erreichte das Stadttor und betrat die Welt der Römer.
»Du bist wie dein Vater, und trotzdem bist du ein Fremder ... «
Macellius Severus sah Gawen an und wandte den Blick sofort wieder ab. Das tat der alte Mann seit seiner Ankunft. Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er froh oder darüber entsetzt sein sollte, einen Enkelsohn zu haben.
So ist es auch mir gegangen, als ich erfuhr, wer meine Eltern waren ...
»Ich erwarte nicht, daß du mich als deinen Enkelsohn anerkennst«, sagte Gawen. »Ich habe ein paar Dinge gelernt und kann meinen Lebensunterhalt selbst verdienen.«
Macellius richtete sich auf, und zum ersten Mal sah Gawen den römischen Offizier vor sich, der sein Großvater früher gewesen war. Das Alter hatte den einst kräftigen Mann gebeugt, und von den Haaren waren nur spärliche weiße Strähnen übriggeblieben. Doch noch jetzt vermittelte er den Eindruck, daß er einmal große Autorität und Macht besessen hatte. Das Gesicht war von Kummer gezeichnet, aber er schien noch immer die Kontrolle über seinen Verstand zu haben. Dafür war Gawen besonders dankbar.
»Glaubst du, dein Erscheinen bringt mich in Verlegenheit?« Macellius schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin zu alt für solche überflüssigen Dinge. Deine Halbschwestern sind verheiratet oder verlobt. Ihre Zukunft kannst du nicht gefährden. Trotzdem bin ich der Meinung, daß eine Adoption der einfachste Weg wäre, dir meinen Namen zu geben, wenn du das möchtest.« Er sah ihn durchdringend an, und da Gawen beharrlich schwieg, setzte er sich und sagte: »Aber zuerst möchte ich wissen, warum du nach all dieser Zeit plötzlich zu mir kommst.«
Der Adlerblick dieses Mannes hatte bestimmt viele Legionäre zittern lassen. Gawen starrte verlegen auf den Boden.
»Die Priesterin Caillean hat mir erzählt, daß du dich nach mir erkundigt hast ... Sie hat dich übrigens nicht belogen«, fügte er schnell hinzu. »Bei eurem Treffen wußte sie nicht, wohin man mich in Sicherheit gebracht hatte.«
»Und wo war das?« Er stellte die Frage leise, aber Gawen spürte den Anflug von Gefahr. Nach kurzem Nachdenken entschied er, das alles gehöre längst der Vergangenheit an. Was konnte es schaden, wenn dieser alte Mann jetzt die Wahrheit erfuhr?
»Eine der Kinderfrauen in Vernemeton hat mich versteckt, als mein anderer Großvater, der oberste Druide, meine Mutter und meinen Vater gefangennahm. Später ... nachdem alles vorüber war, brachte mich Caillean nach Avalon.«
»Dort ist niemand. Es gibt keine Druiden mehr in Vernemeton«, sagte Macellius nachdenklich. »Bendeigid, dein anderer Großvater, ist im vergangenen Jahr gestorben. Man erzählt, daß er bis zum Schluß etwas von einem ›heiligen König‹ gefaselt habe.« Er hob den Kopf und sah Gawen verwundert an. »Ich wußte nicht, daß es im Süden von Britannien noch Druiden gibt ... Ach, übrigens, wo ist Avalon?«
Die Frage kam schnell wie ein Pfeil, und Gawen beantwortete sie, ohne darüber nachzudenken, weshalb der alte Mann das wissen wollte.
»Es ist nur ganz klein«, murmelte er, plötzlich unsicher. »Ein Haus für die Frauen und ein paar Hütten für die Männer. Außerdem lebt weiter unten im Tal eine Bruderschaft der Nazarener.«
»Dann verstehe ich sehr gut, daß ein junger Mann wie du woanders sein möchte ... « Macellius erhob sich, und Gawen atmete erleichtert auf.
»Kannst du lesen?«
»Ich kann Latein schreiben und lesen ... etwa so, wie ich es spreche. Und das ist nicht besonders gut«, antwortete Gawen. Er fand es nicht angebracht, darauf hinzuweisen, daß er bei den Druiden die Fähigkeit erworben hatte, einen großen Teil ihres Wissens im Gedächtnis zu behalten. »Ich spiele Harfe. Aber vermutlich«, fügte er hinzu und dachte an das Können, das er der Fee verdankte, »sind die Jagd und das Fährtenlesen nützlichere Dinge.«
»Das stimmt. Damit kann man etwas Vernünftiges anfangen.« Macellius ging nachdenklich im Raum auf und ab. »Die Macelli sind immer beim Heer gewesen«, erklärte er schließlich eher beiläufig und fragte dann: »Möchtest du Soldat werden?«
Gawen sah an den blitzenden Augen, wie sehr seinem Großvater das Militär am Herzen lag, und er wollte ihn nicht enttäuschen.
Noch vor kurzem dachten alle auf Avalon, ich würde ein Druide werden ...
Er nickte langsam und war sich dabei bewußt, daß er mit seinem Eintritt in das römische Heer endgültig sein anderes Erbe leugnete.
Macellius war sichtlich erfreut. »Ich werde
Weitere Kostenlose Bücher