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Die Herrin von Avalon

Die Herrin von Avalon

Titel: Die Herrin von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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ihm führen. Die anderen folgten ihr und suchten die Umgebung ab. Sie hielt jedoch die Augen geschlossen und folgte der Spur seiner Seele, bis sie ihn gefunden hatte. Dierna schlug die Augen auf und sah die Gestalt eines Mannes. Er hing zwischen Baumwurzeln halb im Wasser und war so mit Schlamm und Schilf bedeckt, daß er bereits Teil der Erde zu sein schien, auf der er lag. Adfried lief an ihr vorbei, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als er das Seil um den Hals des Toten sah. Nach einer ehrfürchtigen Geste löste er es mit zitternden Händen und zog die Leiche seines Herrn ans Ufer.
    Der Suchtrupp des kleinen Volkes wagte sich nicht näher. Adfried sah Dierna an. »Es war kein ehrloser Tod. Nein, das war es bestimmt nicht!«
    Sie nickte, unfähig zu sprechen.
    Konntest du nicht noch ein wenig länger warten? rief ihr Herz. Konntest du nicht bleiben, um Abschied von mir zu nehmen?
    »Ich werde ihn mitnehmen. Er soll ein Heldenbegräbnis bekommen«, sagte Adfried. Dierna schüttelte den Kopf.
    »Unsere Göttin hat Carausius zum Kaiser auserwählt. Ob in diesem Leben oder in einem anderen, er ist an unser Land gebunden.« Bei diesen Worten schien ihre Seele plötzlich von einer Last befreit. Sie hob den Kopf und erklärte mit fester Stimme: »Durch ihn ist auch dein Volk an Britannien gebunden und wird eines Tages hierher gehören!«
    Adfried verneigte sich vor ihr. Die Hohepriesterin trat neben den Toten und nahm ihren Umhang ab.
    »Bedeckt seine Wunden mit meinem Mantel.« Zu dem kleinen Volk gewandt, sagte sie: »Holt die Barke. Wir werden ihn in Avalon begraben.«

    An diesem Tag, dem längsten des Jahres, saß die Herrin von Avalon im heiligen Hain an der Quelle und hielt Wache neben dem Leichnam ihres Kaisers. Als der Wind sich drehte, hörte sie das Singen der Druiden auf dem Tor. Ildeg vertrat sie als Hohepriesterin bei den rituellen Feierlichkeiten.
    Zu Diernas Ausbildung gehörte das Können, ihre Gefühle zu unterdrücken, wenn die Pflicht es erforderte. Sie hatte jedoch auch gelernt, daß es Augenblicke gab, in denen selbst Disziplin machtlos gegen den Aufschrei des Herzens war.
    Wenn ich heute dort oben in dem Steinkreis die Kraft der Göttin rufen müßte, würde ich ihn mit Sicherheit zerbrechen , dachte Dierna und blickte auf das starre Gesicht des Toten. Ich bin immer noch fruchtbar, aber nun fühle ich mich wie die Alte, die den Tod verkörpert ...
    Man hatte Carausius mit dem Wasser der heiligen Quelle gewaschen und die zahllosen Wunden geschlossen. Im Augenblick wurde ein Grab für ihn vorbereitet. Es lag neben dem Grab von Gawen, dem Sohn Eilans, der, wie die Geschichten erzählten, Römer und Britone gewesen war.
    Dierna würde Carausius in allen Ehren begraben, wie es dem Kaiser von Britannien gebührte; das Grab war jedoch ein kaltes Bett für einen Mann, bei dem sie voll Freude gelegen hatte.
    Wenn ich den Mut hätte, würde ich mich zu ihm in das Grab begeben und wie in alter Zeit das Große Ritual feiern, als die Gemahlin dem Gemahl in die andere Welt folgte ...
    Doch sie war nicht seine Frau. Der Kummer lastete schwerer auf ihr als der Verlust. Jetzt verwünschte sie den Stolz, der sie für die Stimme ihres Herzens taub gemacht hatte. Denn nun sah sie, daß alles Unglück ihr Werk war. Mit ihrer Entscheidung hatte sie Carausius und Teleri zu einer lieblosen Ehe gezwungen, die schließlich zum Verrat von Allectus führte. Wenn sie sich nicht in das Geschehen eingemischt hätte, würde Carausius immer noch über sein geliebtes Meer fahren, und Teleri wäre als Priesterin in Avalon glücklich.
    Dierna kreuzte die Arme vor der Brust, wiegte sich hin und her und weinte um sie alle.
    Sehr viel später, als alle auf der Insel verstummt waren und die lange Abenddämmerung des Hochsommers wie ein Schleier über dem Land lag, war die Trauer erschöpft, die Dierna überwältigt hatte. Sie richtete sich auf, sah sich um und empfand eine innere Leere, als hätten ihre Tränen alle Gefühle fortgespült. Nur ein Gedanke blieb, und er schenkte ihr Trost. Sie mochte weinen, aber es gab andere Frauen, die in dieser Nacht in den Armen ihrer Männer lagen, während ihre Kinder friedlich schliefen, weil Carausius Britannien beschützt hatte.
    Der Schlag einer Trommel, so langsam wie das Klopfen ihres Herzens, drang durch die Luft. Dierna erhob sich, als die Prozession der weiß gekleideten Druiden den gewundenen Weg vom Tor herunterzog. Sie trat beiseite, damit sie die Bahre hoch heben konnten, und nahm

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