Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
dass ein amputierter Drache einen so hohen Rang bekleidete, bei den Himmelsdrachen zu einer erhöhten Anerkennung von Deformationen führen könnte.
Graxen ging zu Shandrazel und Androkom, die sich leise unterhielten. Der König blickte auf, als er zu ihnen trat.
»Willkommen, Graxen«, sagte Shandrazel. »Danke, dass du daran gearbeitet hast, alle hierher einzuberufen. Es ist noch früh am Tag, aber es sind bereits viele Gäste eingetroffen. Wie auch immer, ich brauche deine Dienste heute nicht mehr. Du hast in den vergangenen Wochen hart gearbeitet. Du solltest dich heute ausruhen. Und morgen auch.«
»Heute wird hier Geschichte geschrieben«, sagte Graxen. »Ich könnte mir keinen Ort vorstellen, an dem ich heute lieber wäre.«
»Das ist verständlich«, sagte Androkom. Er klang ungeduldig. »Dennoch, du kannst nicht hierbleiben. Die Gespräche müssen geheim geführt werden. Alle, die keine Repräsentanten ihrer Rasse sind, müssen den Saal verlassen.«
Graxen sah Shandrazel an. Der Sonnendrache blickte entschuldigend drein. »Ich fürchte, er hat recht. Du kannst bleiben, bis die Gäste eingetroffen sind, aber wenn die Gespräche beginnen, muss ich dich bitten zu gehen.«
Graxen nickte. Er verstand die Logik, die dahinterstand, die Gespräche geheim zu führen, aber da war dennoch etwas Herablassendes in der Art und Weise, wie Androkom »Repräsentant seiner Rasse« gesagt hatte. Er sah sich im Saal um. Wenn er schon nicht bleiben konnte, so konnte er doch wenigstens eine kleine Rolle dabei spielen, dass die Gespräche erfolgreich verliefen. Die Wandteppiche mit den Ereignissen aus der Vergangenheit mochten für Shandrazel weitgehend unsichtbar sein; zweifellos hatte er sie sein ganzes Leben gesehen und achtete nicht mehr auf das, was auf ihnen dargestellt wurde.
»Bevor ich gehe, darf ich beim Abnehmen der Wandteppiche helfen?«, bot er sich an.
»Wieso?«, fragte Shandrazel.
Graxen deutete mit einem Blick zu dem Wandteppich links hinter Shandrazel. Er zeigte einen jungen Albekizan, der mit seinem Kiefer einen Menschen zermalmte und in der linken Vorderklaue einen abgetrennten menschlichen Kopf hielt. Der verherrlichte Drache stand auf einem Berg von Menschenleichen.
»Es kommt mir nicht sehr angemessen vor den Menschen gegenüber, mit ihnen über eine neue Regierung zu verhandeln und zugleich eine solche Erinnerung an die Macht der Drachen bestehen zu lassen«, sagte Graxen.
»Ich verstehe deine Besorgnis«, sagte Shandrazel, während er das Bild musterte. »Aber ich schätze die Wahrheit mehr als alle anderen Tugenden. Mein Vater war bekannt für seine blinden Flecken. Er hat so getan, als wäre Hex nie geboren worden. Er hat behauptet, dass die Karte auf dem Boden die gesamte Welt darstellt, obwohl sie tatsächlich nur den schmalen Streifen zeigt, den er erobert hat. Mein Vater hat die Geschichte ausradiert, wie es ihm gefiel; ich ziehe es vor, den Beweis der Vergangenheit stehen zu lassen. Vielleicht werden uns diese Verherrlichungen der Gewalt dazu veranlassen, größere Gerechtigkeit walten zu lassen.«
Graxen hielt dies für ziemlich unwahrscheinlich. »Und was ist, wenn die Menschen – «
»Die Wandbehänge bleiben, Graxen«, unterbrach Shandrazel ihn. »Es ist überflüssig, mit mir zu streiten. Du weißt, dass ich in meiner Zeit beim Kolleg der Türme kein einziges Streitgespräch verloren habe.«
Graxen hatte selbst viele dieser Streitgespräche miterlebt. Glaubte Shandrazel wirklich, dass er immerwegen seines überlegenen
Intellekts gewonnen hatte? War er blind gegenüber der Tatsache, dass er mehr deshalb gesiegt hatte, weil er Albekizans Sohn war, als wegen einer besonderen Begabung für Logik?
»Natürlich, Herr«, sagte Graxen.
Er warf wieder einen Blick auf die zunehmende Menge der Menschen und fragte sich, wie sie über diese Angelegenheit dachten. Er bemerkte einen jungen Mann mit langen, blonden Haaren in seidenen Kleidern – er hatte diesen Menschen schon zuvor gesehen, oft in Gesellschaft von Shandrazel. Er war derjenige, den Albekizan als Bitterholz bezeichnet hatte. Vielleicht hatte Shandrazel recht, was Albekizans Blindheit bezüglich der Wahrheit betraf. Dieser Mann war ganz offensichtlich zu jung, um die Quelle der ursprünglichen Bitterholz-Legende sein zu können.
Der junge Bitterholz stand dicht bei einem kleineren Mann. Dieser andere Mann war kahl, abgesehen von ein paar dürren grauen Haaren, und hatte einen langen, geflochtenen Schnurrbart. Im Gegensatz zu
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