Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
dem robust wirkenden Bitterholz war dieser Mann gebeugt und dünn, und er hielt sich mit Hilfe eines knorrigen Stockes aufrecht. Als Graxen die beiden miteinander flüstern sah, kam ihm plötzlich ein Gedanke: Was, wenn der ältere Mann der wirkliche Bitterholz war?
»Ich bin froh, dich wiederzusehen«, sagte Pet leise, während er sich zu Kamon herabbeugte, um sich mit ihm zu beraten. Kamon war ein Prophet aus Wickelstein. Seine Anhänger waren die Ersten gewesen, die zur Freien Stadt geschafft worden waren. Kamon war im ganzen Königreich bekannt; seit Jahrzehnten predigte er eine Philosophie, nach der die Menschen sich den Drachen unterwerfen sollten und nicht die Waffen aufnehmen durften, ehe nicht der namenlose »Retter« erschienen war. Die kamonistische Philosophie war beim Volk beliebt. Sie versprach
bessere Zeiten, ohne dass irgendwelche sofortigen Taten von den Anhängern verlangt wurden.
Kamon nickte. »Es war meine Pflicht, diesem Aufruf zu folgen. Seit einem halben Jahrhundert habe ich gepredigt, dass die Zeit kommen würde, in der die Menschen frei werden würden. Ich bin froh, dass ich lange genug überlebt habe, um diesen Tag zu erleben.«
»Du hast in der Freien Stadt sicherlich eine loyale Anhängerschaft gehabt«, sagte Pet. »Und da wir gerade von Anhängern sprechen – hast du eine Ahnung, wo Ragnar ist?«
Ragnar und seine Männer waren die wildesten Kämpfer in der Schlacht um die Freie Stadt gewesen. Pet schuldete sein Überleben sowohl Kamon als auch Ragnar. Beide waren geborene Anführer, während Pet selbst, wie er wusste, im tiefsten Innern ein Schwindler war. Die Leute glaubten, dass er der furchterregende Drachentöter war. In Wahrheit hatte er nicht einmal während der heftigen Kämpfe um die Freie Stadt einem einzigen Drachen auch nur einen Kratzer zugefügt.
Kamon senkte den Blick bei der Erwähnung von Ragnar. Seine Lippen zitterten, als wollte er etwas sagen, aber nach einigen langen Augenblicken schüttelte der alte Prophet nur den Kopf.
»Du weißt es nicht?«
»Die korrekte Antwort lautet, ja, ich weiß es nicht«, sagte Kamon.
»Was wäre eine weniger korrekte Antwort?«
»Ich habe nur Gerüchte gehört. Sie haben vielleicht keinerlei Bedeutung.«
»Ich habe mir Gerüchte immer angehört«, sagte Pet. »Was ist los?«
Kamons Stimme verebbte zu einem Flüstern, und Pet bemühte sich, ihn zu verstehen. Kamons Atem roch wie saure Milch, als Pet sich näher zu ihm beugte. »Nach dem Fall der
Freien Stadt sind viele der Gefangenen nach Hause zurückgekehrt. Aber ich habe gehört, dass ein paar Männer sich zu einer kleinen Armee zusammengetan haben, die von Ragnar angeführt wird.«
»Eine kleine Armee? Wie klein?«
»Ein paar hundert. Höchstens tausend.«
Pet dachte schweigend über die Neuigkeiten nach. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Eines der Rechte, die diskutiert werden würden, war das Recht der Menschen, Soldaten zu versammeln, um sich selbst zu verteidigen. Die Tatsache, dass Ragnar eine Armee hatte, bedeutete noch nicht, dass er loszog und einen Haufen Drachen tötete.
»Den Gerüchten nach«, sagte Kamon, der jetzt so dicht an sein Ohr herankam, dass sein Schnurrbart Pets Wange berührte, »plant Ragnar, Drachenschmiede zu erobern und sämtliche Drachen dort zu töten.«
»Ich verstehe«, sagte Pet neutral. Er versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, während eine Reihe von Szenarien in seinem Geist wogten. Ragnar würde einen Krieg entfesseln und verlieren, und damit würde er zeigen, dass die Menschen sowohl feindselig waren als auch schwach. Oder Ragnar würde gewinnen und zeigen, dass die Menschen feindselig und gefährlich waren. Keine dieser Varianten eignete sich für Friedensverhandlungen. Pet dachte daran, Shandrazel über das Gerücht in Kenntnis zu setzen und möglicherweise Ragnars Armee aufzuhalten, ehe sie wirklichen Schaden anrichten konnte. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es falsch war. Er wäre tot, wenn Ragnar nicht gewesen wäre. Er konnte ihn nicht einfach verraten. Wo war Jandra, wenn er sie benötigte? Sie war diejenige, die denken konnte. Ganz zu schweigen von ihrem ausgeprägten Sinn für das, was richtig und falsch war. Pets moralischer Kompass lenkte ihn gewöhnlich auf einen Pfad, der den geringsten Widerstand
versprach. Dabei war es nicht so, dass er keine Grenzen kannte; da er das Opfer von Folter geworden war, hatte er kein Problem gehabt, sich Androkom entgegenzustellen, als der vorgeschlagen hatte, die
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