Die Herrschaft der Drachen 03 - Blasphet
war, hatte sie das Gefühl, als würde Blasphet sie irgendwie ausziehen. Sie hatte sich noch nie so verletzlich gefühlt.
»Wer immer dich ausgebildet hat … es war ihm nicht möglich, dir das Sprechen beizubringen, oder?«, fragte Blasphet. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern richtete seinen Blick auf ihre Kehle und sprach weiter. »Das konnte er nicht. Ich sehe eine kleine Geschwulst auf deinem unteren Kehlkopfnerv. Sie scheint mir sehr alt zu sein, vielleicht hast du sie schon seit deiner Kindheit. Sie ist verkalkt, ein winziger Stein in deiner Kehle, der die Nervenimpulse zu den Stimmbändern blockiert. Die Muskeln in deiner Kehle sind verkümmert und haben so zu deiner gegenwärtigen Stimmlosigkeit geführt.«
Blasphets Klauen legten sich um Anzas Kehle. Er rieb leicht an ihrer Haut. Anza zitterte, dann warf sie den Kopf in den
Nacken, als ein reißender Schmerz durch ihren Hals wogte. Sie hatte das Gefühl, als würde Blasphet versuchen, sie von innen zu enthaupten. Sie konnte nicht atmen – es fühlte sich an, als würden ein Dutzend dicker Würmer in ihrer Luftröhre herumwuseln.
Sie öffnete den Mund, und Tränen traten ihr in die Augen. Ihr ganzes Leben hatte sie als Werkzeug des Todes gedient, wie ein Schwert oder ein Bogen. Sie hatte gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem sie zerbrochen und weggeworfen werden würde, wie es das Schicksal von allen Werkzeugen war. Niemals hatte sie irgendeiner Seele anvertraut, dass sie vor diesem Tag Angst hatte. Wem hätte sie es auch sagen können? Es war ihr schmähliches Geheimnis, dass sie manchmal mitten in der Nacht aus traumlosem Schlaf erwachte und bei dem Gedanken an das Nichts, an die Nicht-Existenz, an eine Welt, die sich ohne sie weiterdrehte, erzitterte.
Plötzlich formierten sich die Würmer in ihrer Kehle ordentlich und ließen wieder Luftbewegungen zu. Sie füllte ihre Lunge bis zum Rand mit einem tiefen, verzweifelten, keuchenden Atemzug.
Als sie ausatmete, barst ein Laut aus ihrer Kehle, der anders war als alles, was sie jemals gehört hatte. Es war ein bisschen wie der Schrei eines hungrigen Säuglings, nur tiefer, das Geheul eines Kojoten oder das Jammern einer Wildkatze. Es war ein langer, ohrenbetäubender und gedehnter Schrei, der die Hände, die sie hielten, zusammenzucken ließ.
Es war der Schrei einer Frau, die nie auch nur geflüstert hatte. In diesem Geheul lag die Summe zahlloser Tage der Stille. Es war der Ruf einer Frau, die nie gelacht, nie geflucht hatte, und die schweigend den Schmerz gebrochener Knochen und Tausender von Schnittwunden ertragen hatte.
Es war ein Geräusch, wie sie es nur aus ihren Träumen kannte.
Ein Irrtum war unmöglich. Dieser Lärm kam aus ihrem eigenen Mund. Er sorgte dafür, dass ihre Zunge juckte und ihre Zähne schmerzten.
Dann erstarb der Schrei allmählich, als auch der letzte Fingerhut Luft aus ihrer Lunge wich. Sie atmete tief ein und schrie erneut.
Die Hände, die sie gehalten hatten, lösten sich nach und nach von ihr. Sie rührte sich nicht. Sie konnte es nicht. Die ganze Wut und Angst und Scham eines stummen Lebens hatten die Spannung zur Verfügung gestellt, die die Federn ihres Uhrwerkherzens angetrieben hatten. Diese Spannung war jetzt dahin, war von dem Urschrei davongetragen worden. Die letzten Reste ihrer unausgesprochenen Qual sickerten als lautes, würgendes Schluchzen aus ihr heraus.
»Oh«, sagte sie und zitterte. »Ooooh, ooooh, oooohhhh.«
Sie hatte eine Stimme, aber sie wusste nicht, wie sie Worte bilden sollte.
»Ooooohh!«, ächzte sie und krümmte sich zu einer engen, embryonalen Kugel zusammen. »Ooooohhh. … Oooo hhhhh!«
Zwei riesige Klauen schoben sich sanft unter sie und hoben sie hoch. Sie sackte gegen Blasphets gewaltige Brust und drückte ihr nasses Gesicht dagegen. Seine Schuppen fühlten sich im Vergleich zu ihren heißen Tränen kühl an. Der trommelähnliche Schlag seines Herzens erfüllte ihre Ohren.
»Deine Schreie sind wie Musik für mich, Kind«, flüsterte Blasphet. »Sie sind die Klänge deines Körpers, der heilt, damit auch deine Seele heilen kann. Schon bald werden wir dir das Sprechen beibringen. Du wirst wieder ganz werden, Kind. Du wirst geheilt werden.«
»Wir alle werden geheilt werden«, sagte der Chor von Frauen einstimmig.
Anza öffnete die tränenverschmierten Augen. Sie sah nicht
ein einziges wütendes Gesicht unter den Frauen, die sie anblickten.
Hinter den Frauen jedoch stand der Himmelsdrache, den sie zuvor gesehen hatte.
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