Die Herzen aller Mädchen
schnellstmöglich deine Berichte schreiben. Man braucht sie dringend für das Verhör von diesem Entführer.«
»Ach komm«, sagte Bettina. Den Spruch kannte sie von sich selber: Machen Sie hinne, Herr Kollege, Sie waren doch dabei und ich will Details fürs Verhör. »Und sonst? Hast du die Meldungen verfolgt? Hat sich in meinem Fall noch was ergeben?« Dass Schneider gefasst war, wusste Bettina längst, den hatte ein Einsatzteam keine halbe Stunde nach dem Tod seiner Frau leicht verletzt in einem Waldstück aufgespürt. Doch was zum Beispiel mit dem Ovid passiert war, hatte an der Unfallstelle nicht abschließend geklärt werden können. Auch nicht nach Dr. Ritters hochdramatischer Ankunft.
»Dieses Buch«, sagte Nessa Kaiser prompt.
»Ja?«
»Der – Ovid?«
»Genau. Wo war er denn?«
»Er ist verbrannt. Ich hab es heute Morgen gehört.«
»Was?« Diese lapidare Info schockte Bettina nun doch. »Das Buch war tausend Jahre alt«, sagte sie und dachte an Gregor. Ihn würde es treffen. »Wieso verbrannt?«
Nessa zuckte die Achseln. »Ich weiß es nur vom Hörensagen, weil dieser Millionär so einen Terz gemacht hat, aber du wirst es bestimmt bald schriftlich kriegen. Der Fluchtwagen war zerquetscht und hat wohl auch leicht gebrannt, das sieht man nicht immer gleich, in Filmen wirkt das viel spektakulärer. In Wirklichkeit schwelen die Autos nur so vor sich hin. Das Buch lag im Fußraum vom Beifahrersitz und ist so zerstört worden. – Tja.« Sie sah auf die Uhr. »Oje. Ich bin mit Ackermann zum Essen verabredet. Kommst du mit?«
»Nein.« Bettina schaute melancholisch ihr Telefon an. »Ich warte auf das Ergebnis einer Analyse.«
»Okay«, sagte Nessa. »Also dann.«
Bedrückter als zuvor blieb Bettina allein zurück und machte die Fleißarbeit. Sie schrieb alles auf, was sie in den letzten Tagen gesehen, gehört und gedacht hatte, fein säuberlich in Berichtform, für verschiedene Akten, Abteilungen, Ermittler. Als sie damit fertig wurde, war es schon drei Uhr. Feierabend. Wochenende. Und das Telefon schwieg. Sie trödelte noch zehn Minuten herum. Schließlich richtete sie eine Rufumleitung auf ihr Handy ein.
Bei der Gelegenheit stieß sie auf die Nachrichten, die Gregor hinterlassen hatte, zwei Stück. Sie hatte sich vorgenommen, es nicht, niemals, auf keinen Fall zu tun, aber nun rief sie die Mailbox ab.
»Bettina«, sagte Gregors konservierte Stimme, und aus irgendeinem Grund setzte sie sich gerade hin und biss sich in die Hand, als sie es hörte, »ich bin raus aus dem Knast.« Das sagte er betont derb, als sei es ein Witz. »Bitte ruf mich an.« Der Satz klang innig. »Komm vorbei. Was du willst.« Er atmete lange aus. Sogar wenn er mit Anrufbeantwortern telefonierte, rauchte er. »Pass auf«, sagte er dann mit gesenkter Stimme. »Ich hab hier eine Reclam-Ausgabe der Ars amatoria, die ist fast so gut wie dieser absolut überbewertete illustrierte Reichen-Kitsch vom Ritter. Du kommst her und ich lese dir die wirklich schönen Stellen vor. Die kennt der doch gar nicht, der Ritter, aber ich! … Okay? – Ach Bettina …«
Und die zweite Nachricht lautete: »Wirklich, du musst mir glauben! Ich bin unschuldig!«
Bettina glaubte es. Fünf Minuten lang sicher. Dann wusste sie gar nichts mehr. Und dann holte sie die Kinder ab. Mit ihnen ging sie zu Hübner, dem Familientherapeuten von der Caritas.
»Sie sehen besser aus«, begrüßte er Bettina ernst.
Sie starrte ihn an.
»Doch. Sie haben Farbe bekommen. Energie. Sie sind entspannter. Und Enno auch.«
Bettina holte Luft, um das abzustreiten, da sah sie, wie Enno friedlich mit seiner Schwester ein Spiel auspackte. Fang den Hut. Gut, sie hatten nicht gefragt, ob sie es nehmen durften. Aber sie waren zufrieden, beschäftigt und zankten nicht. Also schluckte Bettina alle Selbstanklagen hinunter, vergaß ihr chaotisches Leben und die schrecklich blutigen Bilder aus ihren Berichten und setzte sich hin und spielte Fang den Hut.
Und gewann.
Am Abend kochte sie Spaghetti, ungebrochen, al dente, mit Speck, Olivenöl, Pecorino und Eiern, Carbonara. Die Kinder aßen das, nicht lieber, aber auch nicht weniger gern als bei Erika. Es kommt nicht darauf an, wie es gemacht ist, dachte Bettina, und aus irgendeinem Grund stimmte sie das froh. Kindern war die Farbe der Wand und die Konsistenz einer Nudel egal. Obwohl sie schon so lange mit ihnen zusammenlebte, merkte Bettina erst jetzt, dass es weit einfacher war, als sie gedacht hatte. Man musste Kinder
Weitere Kostenlose Bücher