Die Herzen aller Mädchen
sie in heiligem Ernst. »Es war doch interessant! All das Verborgene, Weggekratzte, die einmaligen Texte – wolltest du sie nicht entziffern? War das Medea-Rätsel nicht spannend genug, um das Buch bei Ritter zu lassen und daran zu arbeiten? Wieso dieses Gehampel ums Geld? Du verdienst doch gut. – Oder hast gut verdient.«
Gregor stieß eine große Rauchwolke aus und sagte nichts. Auf den Drahtsesseln vor ihnen lümmelten sich zwei stark geschminkte Mädchen mit weißen Stöpseln in den Ohren.
»Wieso?«, wiederholte Bettina und war offensichtlich ratlos. Seinetwegen. Ihm ging es genauso.
»Ich kann bei Ritter nicht bleiben«, sagte er und versuchte, sich Biancas Bild vor Augen zu rufen. Es ging nicht. Sie verblasste erschreckend schnell. Sie war kein Grund mehr, irgendetwas zu tun oder zu lassen. Hätte es nie sein müssen.
»Du hattest es lange geplant und konntest nicht mehr zurück«, sagte Bettina, und er fand es rührend, wie sie versuchte, ihn zu begreifen. »Du hast dieses Buch im Nachlass deines Vaters gefunden, und du hast das Potenzial erkannt. Du hast es zu Freestone gebracht, um es kopieren zu lassen, und dann erst hast du es an Ritter geschickt, um es berühmt zu machen. Je bekannter es wurde, desto höher stieg sein Wert. Und irgendwann fiel dir ein, dass du die Kopie verkaufen könntest. Oder mehrere davon.«
»Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte er vage. An der schmutzigen Fensterscheibe vor ihnen war ein großer brauner Aufkleber befestigt, mit einem stilisierten knorrigen Baum darauf. Er sah mediterran aus und ein bisschen nach Kaffee, weshalb auch immer. The Myrtle Tree stand im Kreis darum geschrieben. Open 24 hours a day. Überall auf den Scheiben klebten diese Sticker, sogar auf der Tür. »Es waren so viele Dinge.« Der Tod seines Vaters. Bianca. Johnny Montes. Die Häme seiner Kollegen. Die lebenslangen finanziellen Engpässe seiner Mutter. Ihre befremdende Art, alles ertragen zu wollen. (Und der schreckliche Grund dafür, den jetzt irgendein blöder Bulle ausgegraben hatte!) All das Verstrickte, Kleinkarierte, das Erstickende, Festgelegte. Er setzte ein kleines Lächeln auf. »Es war vermutlich so eine Art Midlife-Crisis.«
»Aber das Buch«, wiederholte Bettina mit großen Augen, und sie sah ungeheuer jung aus, trotz der Zigarette in ihrem Mund und dieser kleinen Linien in ihrem Gesicht und all dem Ungeheuerlichen, das sie schon gesehen haben musste. Das wollte sie jetzt nicht glauben, dass er seinen Schatz verkauft hatte für die Chance auf ein paar lumpige Millionen. Du braves kleines Mädchen, dachte Gregor, plötzlich bedrängt von so viel billigem Idealismus. Du Angestellte. Du Ignorantin. Du klebst in deiner Mietwohnung und an deinem Halbtagsjob fest, als seien es Paradiese. Du kennst nichts Besseres und wirst nichts Besseres, du kannst nur langsam in deiner Höhle versteinern oder verfaulen. Du bist der Bodensatz. Ermüdend. Austauschbar. Wenn man dich erst vom Wert einer Sache überzeugt hat, dann entwickelst du plötzlich naive Ehrfurcht, die genauso lächerlich ist wie das Desinteresse, in dem du sonst dein Leben verbringst.
»Das Buch«, sagte Gregor hart, »war ein Männermagazin, mehr nicht. Es waren ein paar geile Bilder drin.«
Bettina starrte ihn an, und sein innerer Ausbruch tat ihm leid. Er wusste, er hatte ihr Unrecht getan. Sie war kein Teil der Masse, die Masse gab es nicht. Die Masse war die wahre Illusion und naiv nur, wer an sie glaubte. In Wirklichkeit waren jeder Kopf und jede Haut anders, alle irgendwie gut oder schlecht und verschieden, und Bettinas Haut war die zarteste und blasseste von allen, die einzige, die so nach Rauch und Erde und Vanille roch, die einzige, der bläuliche Lippen und misstrauische Augen nichts anhaben konnten, die einzige.
»He«, sagte Bettina und rückte weiter von ihm ab ins Eck. »Lass das.« Und starrte ihn immer noch so an.
Hey Kumpel, sagte da – natürlich – Johnny Montes in seinem Kopf. Soll ich dir verraten, wie du sie knackst?
Halt die Klappe, sagte Gregor.
Sie braucht eine Geschichte, sagte Johnny.
Verschwinde.
Glaub mir. Hab ich dich je schlecht beraten? Die Puppe da, die darfst du nicht anfassen. Nicht mal anpusten. Mir wär sie ja zu blass, so um die Nase rum, aber wenn du meinen Rat willst: Erzähl ihr eine Geschichte. Na los. Hat dein Vater dir denn gar nichts beigebracht?
Was für eine?, fragte Gregor stumm, und Johnny lachte.
Hat sie doch gesagt, mein Freund. Eine Kriminalgeschichte. Eine
Weitere Kostenlose Bücher