Die Herzen aller Mädchen
und tapfer.
Es wirkte. »Was ist an der Geschichte kriminell?«, fragte Bettina sofort.
»Die Medea.« Gregor verdrängte den Gedanken an seine Mutter und all die Dinge, die er in den letzten Tagen über sie erfahren hatte. »Die ist grausig. Sie war ein Ungeheuer, das schlimmste Killerweib der Literaturgeschichte. In der Antike war sie jedermann bekannt. Ovid hat ein Stück über sie verfasst. Es ist verschollen, aber aus seinen anderen Werken und zeitgenössischen Kommentaren kennt man den wahrscheinlichen Aufbau und Inhalt.«
»Und das war sein Fehler?«
»Meiner Meinung nach, ja.«
»Warum?«
»Er hat es geschafft, ihre Person annäherungsweise zu erklären.«
»Was ist daran schlimm?«
»Es war subversiv. Die Frauen konnten sich plötzlich in ihr wiederfinden.«
»Wer will sich denn in einer fiesen Kindsmörderin wiederfinden?«
»Die Frage ist«, sagte er, »wer muss sich in einer verlassenen Ehefrau erkennen?«
Sie sahen sich an, beide ungebunden, unverlassen, zumindest das. Ein Strahlen wanderte von Bettinas Augen in seine. Die Zigarette, das unmittelbare Hindernis, war fort. »Einige«, sagte sie schließlich weich und hob die Achseln.
Ob sie bei ihm bleiben würde?
»Was war mit ihnen?«, fragte sie.
»Wem?«
»Den verlassenen Ehefrauen.«
»Oh.« Gregor riss sich zusammen. »Tja, denen hat Ovid eine glaubwürdige Rächerin an die Hand gegeben. Er hat Medea aus der Monsterecke herausgeholt. Bei ihm war sie grausam, aber verständlich. Das war neu und radikal.«
»Also, ich verstehe sie nicht.« Bettina sah ihn klar aus ihren grünen Augen an. »Verlassen oder nicht, ich kapiere nicht, wie man Kinder umbringen kann. Egal aus welchem Grund.« Sie rückte ein wenig ab, und Gregor fragte sich plötzlich, ob Bettina vom Mord an der kleinen Angelina Ritrovato wusste. Vermutlich ja. Sie bearbeitete schließlich seinen Fall. Und sie schaute so wissend.
»Ich will keinen Kindsmord herunterspielen«, sprach er leise. »Aber es passiert zuweilen, und Ovid entwickelte ein plausibles Erklärungsmodell dazu. Seine Medea wird übel betrogen. Sie hat ihrem Ehemann Jason zuliebe alle Brücken hinter sich abgebrochen, doch er verlässt sie ohne Vorwarnung für eine Prinzessin, eine sichere Partie. Das ist opportunistisch und feige. Vor allem auch, weil er praktisch aus ihrem gemeinsamen Ehebett direkt zur Hochzeit mit der Neuen geht. Anders kann er es nicht durchziehen, denn es gibt nichts, was er Medea dazu sagen könnte. Medea verzweifelt daran. Sie liebt Jason und hofft noch auf ihn, während draußen vor ihrem Haus schon seine Hochzeitsgesellschaft vorbeitanzt. Ihre Kinder lehnen aus dem Fenster und sagen: Schau mal, Mama, das ist unser Papa, der da voranzieht. Zuletzt wird sie von seinem neuen Schwiegervater mit bösartigen Drohungen aus der Stadt verwiesen. Sicher wird ihr auch gesagt, dass sie die Kinder hergeben muss, denn die gehörten damals den Vätern. Und dann dreht sie durch.«
Bettina schüttelte den Kopf. »Nein. Alle anderen würde ich verstehen. Von mir aus könnte sie Jason töten. Die neue Braut. Den Schwiegervater. Nur nicht die Kinder.«
»Siehst du«, sagte Gregor, »und das ist vermutlich genau der Gedanke, vor dem Augustus Angst hatte.«
»Wieso?«
»Hast du selbst gesagt. Wenn Medea sich nur logisch verhalten hätte, wenn ihre Rache die ›richtigen‹ Personen getroffen hätte, dann würde das jedermann verstehen. Es wäre jedenfalls besser als der Tod der Kinder.« »Oh ja.«
»Das ist ein Kunstgriff. Ovid erreicht damit etwas Unheimliches. Auch er kann Medeas letzten Schritt nicht erklären, das versucht er erst gar nicht. Aber er schafft es, dass man ihr zurufen möchte: Nimm die anderen! Nimm Jason! Oder diesen widerwärtigen Kreon, seinen neuen Schwiegervater! Die haben es doch wirklich verdient!«
Bettina wandte die Augen nicht von seinem Gesicht.
»Wüsste man nicht, dass die Kinder sterben müssen, wäre man vielleicht nicht so sensibel für das Unrecht, das die beiden Männer tun. Und vor allem nicht so bereit, sie zu opfern.«
Bettina hob die Brauen.
»Oder würdest du einer verlassenen Ehefrau raten, ihren Exgatten zu töten?«
»Natürlich nicht.«
»Nicht? Eben noch hast du gesagt, du würdest sogar einen Mord an dem Schwiegervater verstehen.«
Bettina machte den Mund auf, dann klappte sie ihn wieder zu und schwieg.
»Nehmen wir mal an«, fuhr Gregor fort, »Medea hätte ihre Kinder nicht getötet. Und auch sonst niemanden.«
»Dann würde sie mir
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