Die Herzen aller Mädchen
reichte auch ihr einen Prospekt. »Und die Amores. Sein Frühwerk, die Liebesgedichte. Ovid wusste, wovon er schrieb.« Sie grinste. »Er war ein echter Lebemann. Adelig, ohne übermäßiges Vermögen. Elegant, aber nicht gelangweilt. Und«, Marny beugte sich vor, wobei eine ihrer langen hellbraunen Haarsträhnen hübsch über ihre Wange fiel, »seine Ars amatoria wurde von Augustus auf die schwarze Liste gesetzt.« Das klang so stolz, als spräche sie von einer Sendung, die es geschafft hatte, im bayrischen Fernsehen nicht ausgestrahlt zu werden.
»Weswegen?«, fragte Bettina, die auf der Rückseite des Faltblatts las, die Digitalisierung des Manuskripts sei in Arbeit und pünktlich zur Eröffnungsfeier der Bibliothek im Sommer könnten schon einzelne Seiten als hochwertige Faksimiles präsentiert werden. »Ist der Text obszön?«
»Nicht sehr«, sagte Marny. Ihre Augen strahlten goldbraun und kess. »Eigentlich gar nicht«, gab sie zu. »Es war der Stil. Ovid benutzte die Liebe, das harmloseste Beispiel, um seinen Mitmenschen vorzuführen, wie freies Denken funktioniert. Eigentlich ist er nur für seine Eleganz bestraft worden. Er wurde sogar verbannt.«
Letzteres führte sie ehrfürchtig an wie einen Nobelpreis. Bettina fragte sich, ob der Dichter selbst auch stolz auf seine Strafen gewesen war. »Wohin?«
»Bitte?«
»Wohin wurde Ovid verbannt?«
»Ans Schwarze Meer. Ins heutige Rumänien. Es hat ihn umgebracht. Das war damals der Arsch der Welt.« Marny grinste kurz. »Allerdings ist unser Manuskript nicht nur von Ovid. Oberflächlich betrachtet enthält es einen Teil der Psalmensammlung aus dem Alten Testament, ist also auch ein Psalter. Das war im Mittelalter eines der wenigen Bücher, die von Einzelpersonen benutzt wurden.« Diesem Satz folgte ein frommer Blick. »Zum individuellen Gebet. Unser Exemplar sieht auch wirklich benutzt aus. Nicht übermäßig prächtig. Nur eine Art besseres Notizbuch. Etwa dreizehntes Jahrhundert, keine sehr aufregende Arbeit, mit vielen Fehlern. Vermutlich ist es deshalb nie in einem Verzeichnis erwähnt worden.« In Marnys goldbraunen Augen staute sich inneres Vergnügen. »Oder weil es mehr Zeit unter Kopfkissen verbracht hat als in Regalen.«
Bettina betrachtete das Foto auf der Vorderseite des Prospekts. Es zeigte ein schäbiges, dunkel gebundenes Buch, eher sogar ein Heft, dessen Größe nicht leicht zu schätzen war. »Und wo ist der Ovid?«
»Auf den Rückseiten«, erklärte Marny. »Der Psalter ist nur die Tarnung.«
»Wie kann das funktionieren?«
»Die Seiten sind zum Aufklappen«, sagte Marny und blickte sich wieder im Raum um, als suche sie an den glatten Wänden eine Erklärung. »Wenn Sie im Sommer noch mal kommen, können Sie es sehen, dann haben wir Faksimiles da, detailgetreue Nachbildungen der Highlights, und die werden zu bestimmten Zeiten zugänglich sein. – Also, einfach gesagt, wurden die alten Pergamentblätter einseitig abgekratzt, gefaltet und neu gebunden.«
»Wie, abgekratzt?«
»Der Text wurde entfernt. Mit Messer oder Bimsstein.« Nun blickte Marny eifrig. »Und dann wieder überschrieben. Das war lange Zeit gängige Praxis. Es gibt sogar einen Namen dafür: Palimpsest. Wenn das Material für neue Bücher nicht anders zu beschaffen war, hat man alte Codices auseinandergenommen und das Papier aufbereitet. Pergament ist teuer. Es besteht aus Kalbshaut. Ein Kalb für zwei große Doppelseiten, da können Sie sich vorstellen. Noch bis ins achtzehnte Jahrhundert wurde mit älteren Büchern so verfahren. Zuweilen hat man auch einfach das Material zerschnitten und zur Reparatur von Einbänden benutzt. Fast alle originalen Gutenberg-Bibeln sind auf die Weise zerstört worden.« Sie zog die Nase wieder kraus, diesmal aus Bedauern. »Leider«, sie wies auf den Prospekt, »ist unser Büchlein nur der Rest eines viel größeren Schatzes, nämlich einer illustrierten Werkausgabe von Ovid. Vielleicht aus dem zehnten Jahrhundert, möglicherweise aus Byzanz. Vermutlich inklusive der Medea.«
»Was ist das?«, fragte Bettina, als nicht einmal Willenbacher Zeichen des Erkennens gab.
»Das ist ein heute verschollenes Drama. Sein Fund wäre eine Sensation.«
»Sie haben einen Rest davon?«
»Magere Bruchstücke«, sagte Marny. »Äußerst magere. Im Grunde nur ein Bild. Und die Hoffnung auf Textfragmente.« Sie blickte von Bettina zu Willenbacher, warf ihre hübschen braunen Haare zurück und beugte sich wieder vor. »Der Retter«, sprach sie leise,
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