Die Herzen aller Mädchen
»war ein kleiner Schreiber aus irgendeinem linientreuen Kloster. Vielleicht nicht mal das. Ein Lehrling. Oder Helfer, so stelle ich es mir jedenfalls vor. Er war einer, der kratzen musste. Darum hat er die Ovid-Ausgabe auf den Tisch gekriegt. Um sie auseinanderzunehmen und aufzubereiten. Sein Auftrag war, Material abzuliefern, und das tat er. Den Text hat er gekillt. Bei den Bildern aber bekam er Skrupel. Die Illustrationen waren zu schön. Und auch zu …«, die junge Frau machte eine anzügliche kleine Pause, »anregend. Er konnte nur so viele stehlen«, flüsterte sie nun, »dass es nicht auffiel. Also wählte er die aus, die ihm selbst besonders gefielen.«
Sie sahen sich an.
»Er hat sich eine Wichsvorlage gebaut«, fasste Willenbacher das Unausgesprochene zusammen.
Marny hüstelte. »Nennen wir es das erste Playboy-Weh aller Zeiten.«
Bettina schlug den Prospekt auf.
»Sie sehen die Begegnung zwischen Bacchus und Ariadne«, kommentierte Marny.
Auf dem Centerfold – so konnte man die Innenseite des Prospekts mit Fug und Recht nennen – prangte die Reproduktion einer prächtigen, farbigen Szene aus der Mythologie. Ein von Tigern gezogener, üppig geschmückter Wagen mit großem Gefolge trug einen wohlgebauten nackten Mann, der sich zu einer Frau, Ariadne, hinabbeugte. Diese trug offenes Haar über einem tiefblauen, freizügigen Gewand, sie war sehr schön. Die Diener und Dienerinnen des Bacchus benahmen sich teils recht frivol, der nackte Gott selbst wirkte leicht befremdlich, weil sich aus seinem Mund ein Spruchband wand, was aussah, als kämpfe er nebenbei mit einem mächtigen Wurm. »Was sagt er?«, fragte Bettina. Sie konnte die zusammenhängenden, in Großbuchstaben geschriebenen Worte nicht entziffern.
»Er sagt: Munus habe caelum: caelo spectabere sidus «, antwortete Marny sofort. »Ist das nicht wunderschön?« Sie lächelte. »Es heißt: Nimm den Himmel von mir zum Geschenk, dann wirst du dort als Sternbild zu sehen sein.«
***
Elisabeth legte den Telefonhörer auf und brachte die Post ins Arbeitszimmer ihres Mannes, so wie immer. Es war ziemlich verrückt, das zu tun, wo er doch schon fast zwei Jahre tot war. Elisabeth wusste das gut, sie war ja nicht dumm, aber Zwanghaftigkeit war nun mal keine Frage von Selbsterkenntnis. Sie brauchte Gewohnheiten, um über ihren Tag zu kommen. Gewohnheiten verlängerten das Leben, halfen ihr, den Kopf oben zu behalten und den riesigen Haushalt allein zu bewältigen. Daher lieferte sie täglich treu und brav ihre eigene Post auf dem Schreibtisch ihres Mannes ab, ließ sie dort liegen, wie um ihm Gelegenheit zu geben, die Briefe durchzusehen, und öffnete sie dann tags darauf. Das hatte sie schon vor dem Tod ihres Mannes gemacht, viel hatte sich nicht geändert, denn oft war er sowieso nicht hier gewesen. Es war leicht, sich einzubilden, Georg sei noch am Leben und nur im Keller zum Basteln – oder auf einem seiner vielen Ausflüge. Dieser Gedanke war zwar nicht schön, aber vertraut, und er rettete Elisabeth vor dem Altersheim.
Sie stieß die Tür zu dem hellen kalten Büro auf und stolperte prompt – eben wie immer – über Morton Black, die Katze. Morton Black wohnte in diesem Zimmer, sie war so etwas wie eine Steigerung der Gewohnheit, ein eifersüchtiger Spuk. Sie bewachte die Besitztümer ihres Herrn über dessen Tod hinaus. Auf- oder Umräumen duldete Morton Black keinesfalls. Dann sprang sie wild im Zimmer herum, landete auf Elisabeths Schultern, setzte sich auf die Dokumente, und notfalls pinkelte sie auf den Teppich. So kam Elisabeth mit dem Ordnen von Georgs Privatkram immer nur briefeweise voran. Was andererseits nicht schlimm war, denn der größte Teil davon war Fanpost, und Elisabeth war kein Freund von Fanpost.
»Mistvieh«, knurrte sie die Katze an. Morton Black bedachte die Frau ihres Herrn mit einem verächtlichen Blick und sprang auf den Schreibtisch. Auf das Paket. Elisabeth legte die Briefe hin. Da wäre noch eine Postkarte, sagte sie im Geiste zu ihrem Mann, auch das war eine Gewohnheit, die sie schon vor Georgs Tod angenommen hatte: die inneren Gespräche mit ihm. Vermutlich weil sie angenehmer gewesen waren als die echten. Da ist eine Postkarte, Georg. Mille saluti del Lido di Ostia. Ich hab sie weggeworfen, aber denk dir, die Kartenschreiberin gibt es auch noch. Nun schickt sie uns sogar Botschaften. Auf Latein. Vom Himmel und von Sternbildern. Nett, was?
Ihr Blick fiel auf das Paket, das sie gestern hierher gestellt
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