Die Herzen aller Mädchen
Ehefrau verschwinden lassen. Und sie hat eine regelrechte Rufmordkampagne gegen den Vater des Opfers gestartet.«
»Wie können Sie das wissen?«, fragte Kaiser.
»Sie ruft ab und zu an und erkundigt sich, weshalb Herr Lohmeier nicht im Gefängnis sitzt«, sagte Bettina müde. »Sie redet viel mit Journalisten. Und sie liebt es, neu befragt zu werden.«
Kaiser zuckte ein wenig zusammen, vermutlich hatte sie genau das vor. »Nein, ich meine das mit dem Abschiedsbrief.«
»Im Büro des Täters –«
»Sie meinen im Büro von Erich Mahler.«
»Ja«, sagte Bettina beherrscht.
»In der Stadtverwaltung.«
»Genau. Da hat man zwei Entwürfe gefunden. Die waren nicht sehr aussagekräftig, nur: Liebe sowieso, wie auch immer seine Alte heißt –«
»Elvira«, sagte Kaiser strafend.
Bettina wies auf den Karton. »Graben Sie doch mal da drin, da finden Sie die Dinger. Liebe Elvira, es tut mir unendlich leid, ich habe immer nur dich geliebt. Viel weiter ist er bei den Entwürfen nicht gekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er den Brief nicht fertig geschrieben hat.«
Kaiser blickte enttäuscht auf den Karton. Dass Bettina seinen Inhalt kannte, nahm ihm offenbar seinen Zauber.
»Das Problem ist«, sagte Bettina, »so blöd das klingt, dass der Täter das Opfer nicht vergewaltigt hat. Jedenfalls nicht unmittelbar vor der Tat. Es gibt keine DNA-Spuren.«
»Das kann doch nicht sein«, sagte Kaiser und beugte sich über die Kiste.
Bettina seufzte und schnappte sich ihren hübschen dicken Stapel Umlaufmappen, der bereits wieder gewachsen war. Dann ging sie sich einen ruhigeren Platz suchen. Doch während sie noch durch den Gang zu Ackermanns Büro trabte (Ackermann arbeitete so gut wie nie am Schreibtisch), dachte sie, dass irgendetwas an dem unerfreulichen alten Lohmeier-Fall sie an ihren Bombenanschlag erinnerte. Es gab einen Gleichklang. Einen Zugang, der sich eben dank Nessa Kaisers aufdringlicher Arbeitswut kurz gezeigt hatte, ein halb bewusstes Aufblitzen von Erkenntnis, das augenblicklich wieder verloschen war. Einen Moment stand sie da, spürte dem Gedanken nach, doch er floh. Sie ging zurück zu ihrem Zimmer, aber der Drachenbaum auf der Fensterbank hielt alle seine spitzen Blätter gegen sie gerichtet, und Nessa Kaiser murmelte leise über ihren Tüten. Da drin würde sie überhaupt nicht denken können. Also richtete Bettina sich in Ackermanns leerem Büro ein und las Gregor Krampes Personenbeschreibung. Doch auch die konnte ihre verlorene Idee nicht wiederbeleben, höchstens die Erinnerung an Krampes rauchigen Geruch und die rasante Intelligenz, mit der er sprach und lebte. Er steht mir im Weg, dachte Bettina plötzlich. Ich muss um ihn herumschauen. Er ist aufregend und männlich, aber für meinen Fall nicht die Lösung.
Bettina legte sein Dossier weg und holte den neuen Bericht über die Konstruktion der Bombe vor. Es war ein schwieriger Text mit vielen technischen Ausdrücken. Ein guter Text. Präzise, fast poetisch. Und noch dazu interessant: Die Fachleute hatten auf dem verbrannten Packpapier, das die Bombe umhüllt hatte, Spuren einer Schrift ausgemacht, die sie mit einer bestimmten Art von Fotografie sichtbar zu machen hofften. Es schien, als habe auf dem Paket eine Adresse gestanden. Vielleicht sogar ein Absender. Und auf unbestimmte Weise bestärkte dies Bettinas Überzeugung, dass Gregor Krampe mit dem Sprengsatz nicht das Geringste zu tun hatte.
* * *
Herr Hübner von der Caritas hatte noch an diesem Nachmittag Zeit für ein Vorgespräch mit Bettina, vermutlich war ihr Fall als akut bis hoffnungslos dargestellt worden. Sie trat mit Enno und Sammy an, Enno ordentlich gekämmt und Sammys dunkles Gesicht mit Spucke und Tempo von allen Rotz- und Essensflecken befreit. Die beiden waren ungewohnt still, als Bettina mit ihnen die leeren Flure des Caritas-Gebäudes entlangschritt. Dass Menschen hier wirklich Hilfe erfuhren, bezweifelte sie sofort. Auf dem Gang der Familienberatung war es besser, aber nicht viel. Immerhin stand da ein Tisch mit Zeitschriften und Malbüchern.
»Was sollen wir denn hier, Tina?«, fragte Enno missmutig und begann die Arme zu schlenkern.
»Uns helfen lassen.«
»Warum?«
»Pass auf, wir reden jetzt mit Herrn Hübner, der will uns kennenlernen –«
»Genau!«, rief ein blasser, etwas schlaffer Mann von einer Tür ganz am anderen Ende des Flurs aus. »Du musst Enno sein!«
Enno betrachtete Hübner misstrauisch, so wie er jeden neuen munteren Menschen in
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