Die Herzen aller Mädchen
Buchmalerei waren abgebildet, Ausschnitte von Gesichtern. Wach blickten sie von den Seiten, Mienen von Menschen, die wirkten, als ob sie keine Zweifel kannten, mit Augen, die Bettina gelassen übersahen, die anderes gewöhnt waren, ein härteres Leben, eine heißere Sonne, einen grausamen Gott. Es waren archaische, schöne Gesichter. Ihre Beschreibung im Text erschien umso nüchterner. Der Autor der Expertise hatte ein bekanntes Manuskript, den sogenannten Pariser Psalter, als Vergleichsdokument für den Ovid-Kodex herangezogen, um einzelne Charakteristika einander gegenüberzustellen. Er vermutete, beide Kodizes seien im Konstantinopel der mazedonischen Renaissance entstanden, was bedeutete, dass sie einer Vorbotin der Neuzeit entstammten und doch noch mittelalterlich und von der griechisch-römischen Antike geprägt, also im Grunde einfach alles waren. Es bedeutete, dass sie gut eintausend Jahre alt sein mussten.
Eintausend Jahre, dachte Bettina, und nur solche winzigen Bildausschnitte. Leider enthielt das dünne Gutachten keine einzige vollständige Abbildung. Also schlug sie das dickere auf.
Auch hier blieb sie sofort hängen, allerdings nicht bei einem Bild, sondern mitten im Text: »Sie tötete ihre beiden kleinen Söhne und floh allein nach Athen.«
Bettina starrte den Ordner an, den sie in Händen hielt. Da ging es um Mord. Dabei sollte das geheimnisvolle Ovid-Palimpsest doch angeblich nur aus luftigsten Liebesromanzen bestehen. Sie blätterte vor und erfuhr, dass sie beim Kapitel über das Drama der Medea gelandet war. Das war doch die Frauenfigur, die Gregor Krampe erforschte, deretwegen er sogar eine wissenschaftliche Gesellschaft gegründet hatte: ein Monster. Medea hatte ihre eigenen Kinder getötet, ihren Bruder zerstückelt und den Onkel ihres Ehemannes gekocht. Bettina las:
»Die Medea entstieg dem Dunkel vorklassischer Zeiten. Ihre Mütter waren Magierinnen, die in verschiedenen Küstenregionen des Schwarzen Meers den Kult um eine weibliche Gottheit oder Zauberin versahen. Wir kennen sie nur durch den Zerrspiegel griechischer Überlieferung: Ihre Grausamkeit ist vermutlich das Abbild kriegerischer Auseinandersetzungen, vielleicht aber auch nur Zeugnis tiefen Misstrauens gegenüber einer mächtigen matriarchalen Kultur.«
Der Legende zufolge, erfuhr Bettina, war Medea die Tochter des Königs von Kolchis. Sie verliebte sich in Jason, den größten griechischen Helden seiner Zeit. Der war in ihre Heimat gekommen, um dort den wertvollsten Schatz, das Goldene Vlies, zu stehlen. Medea half ihm mit ihrer Zauberkraft. Anschließend flohen beide gemeinsam. Dabei zogen sie eine schreckliche Blutspur hinter sich her. Als aber alle Feinde besiegt waren und Jason sesshaft werden wollte, bedurfte er keiner entwurzelten Magierin mehr. Er beschloss, Medea zugunsten einer jungfräulichen korinthischen Prinzessin zu verstoßen.
Das, dachte Bettina sofort, war dumm von ihm. Schließlich musste gerade Jason klar sein, dass Medea sich nicht einfach vor die Tür setzen ließ. Der Kriegsheld aber glaubte naiv an seine neue bequeme Altersversorgung. Vor den Augen Medeas feierte er Hochzeit mit der kleinen Korintherin und besiegelte damit deren kurzes Schicksal: Medea bewirkte, dass ihre Rivalin in einem vergifteten Brautkleid verbrannte. Dann aber tötete sie nicht etwa Jason, sondern ihre gemeinsamen Söhne. Bettina fröstelte. Und las doch weiter:
»Das Schicksal der Medea erfuhr von der Antike bis zur Neuzeit verschiedene Deutungen in mehreren Bearbeitungen, von denen die interessanteste das Drama des Publius Ovidius Naso gewesen sein dürfte. Ovid war ein äußerst genauer Kenner menschlicher Natur, der antike Überlieferung in allgemeingültige Psychologie übersetzte. Es sei hier daran erinnert, dass unsere Kenntnis der klassischen Mythologie zum großen Teil auf seinem Werk beruht. Von der augustäischen Zensur an allzu aktuellen Bezügen gehindert, verlieh er den Sagengestalten seiner Kultur jene monumentale Individualität, die sie zu Figuren von zeitloser Bedeutung machten. Ovids Arbeit überstand mehrere verlustreiche Medienwechsel, die religiöse Restriktion des Mittelalters und den Tod seiner Sprache. Bis heute sind Ovids Gedanken aktuell. Die Geschichte der Medea hat er gleich mehrfach bearbeitet (vgl. Metamorphoses 7, Heroides 12). Sein heute verschollenes Drama wurde seinerzeit von namhaften Kollegen erwähnt und hoch gelobt.«
Hier folgte eine Aufzählung der Kollegen und was sie gesagt hatten. Und
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