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Die Herzen aller Mädchen

Titel: Die Herzen aller Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Geier
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dann äußerte der Autor der Expertise die vorsichtige, trocken formulierte, doch für ihn spürbar überwältigende Vermutung, das aufgefundene Manuskript sei Teil einer einstmals kompletten Ovid-Werkausgabe gewesen, und man sah das Wörtchen »komplett« regelrecht sprühen vor Bedeutung.
    »Eine der im vorliegenden Kodex aufgefundenen Miniaturen könnte ein Hinweis auf das verschollene Medea-Drama sein.«
    Miniatur, das bedeutete Buchmalerei. Bettina blätterte sofort weiter und erblickte endlich ein vollständiges Bild in wundervoll satten Farben. Es wurde fast ganz von der Darstellung eines Gebäudes ausgefüllt, an dem eine Menge festlich geschmückter und freizügig tanzender Menschen vorbeizog. Im Innern des Hauses dagegen herrschte sichtliche Beklemmung. Dort stand, weit größer als die Tanzenden dargestellt, eine schöne, ganz in Blau gekleidete Frau mit schwarzen Haaren. Vor ihr saß eine Menschengruppe in braunen und grauen Gewändern mit zwei Kindern. Bettina betrachtete das Gesicht der Schwarzhaarigen genau, als könnte sie auf die Art etwas finden, was deren Söhne noch retten würde. Doch Medea blieb rätselhaft. Sie trug nur leicht melancholische Züge, während die Menschen in den braunen Kleidern offensichtlich trauerten und die Tänzer vor dem Haus vor obszöner Fröhlichkeit fast platzten.
    »So hat Ovids Medea die fast schon Ikonoklasmus zu nennenden Verluste der Spätantike möglicherweise allen Befürchtungen zum Trotz im ehemals griechischen Sprachraum überstanden«, schloss der Gutachter sein Kapitel in spürbarem Triumph.
    Bettina aber fragte sich, ob dieser Jubel angebracht war. Allzu lebendig blickte Medea aus ihrer Expertise heraus und haarscharf an Bettina vorbei. Nachdenklich klappte die den Ordner mit dem Gutachten zu und startete den Wagen. Aber nach Rosenhaag zog es sie immer noch nicht. Erst musste sie zur nächsten Buchhandlung. Wenn sie Medea beikommen wollte, brauchte sie ein Fremdwörterlexikon.
    Denn unter anderem wusste sie nicht, was ein Ikonoklasmus war.
     
    * * *
    Die Arbeit, die Gregor nebenher zu Hause machte, war kaum anders als die in der Bibliothek. Sie ähnelte dem Verfassen einer Dokumentation: Er suchte Daten zusammen, las Texte, bewertete widersprüchliche Informationen, und dann zauberte er aus dem Wust von handschriftlichen Notizen, Fotografien und mies archivierten Computerdateien eine Geschichte. Das Ergebnis musste sich natürlich saftiger lesen als eine wissenschaftliche Abhandlung, doch das war reine Stilsache und für Gregor nicht sehr schwierig. Mühe hatte bislang nur der Auftraggeber gemacht: Freestone war verdammt eitel. Seine Autobiografie musste großartig werden, ein Meisterwerk, ein Faulkner, nein, ein Hemingway, nobelpreisverdächtig jedenfalls. Auf Preise war Freestone absolut geil, Preise hatte er nie bekommen, und das nahm er der Welt übel. Dabei war Freestones Arbeit natürlich nicht geeignet, Auszeichnungen einzufahren – um die zu bekommen, hätte er ehrlich sein müssen. Dieser Zusammenhang wurde von seinem Ego allerdings ausgeblendet, er war ein Genie, ihm gebührte Bestätigung und basta. Schließlich hatte er ein ganz unvergleichliches Leben geführt, Abenteuer von Geburt an, seine Coups waren Legende und sogar seine Schulzeugnisse brillant. Daher war es auch so mühsam, Freestone vom Kürzen zu überzeugen. Denn dem Mann war nur theoretisch klar, dass insgesamt dreizehn Kilogramm Tagebücher, Notizen und Computerdisketten nicht auf die sechshundert Seiten passten, die eine Autobiografie gewöhnlich fasste. Er kämpfte um jeden Satz und jedes Bild. Nur die Erinnerung daran, dass er mit seinem Projekt bereits bei mehreren Verlegern gescheitert war, die ihm jeweils einen horrenden Vorschuss und einen Ghostwriter angeboten hatten, brachte ihn gewöhnlich zur Einsicht. Es war schon erstaunlich, dachte Gregor, als er den Reisekoffer voll mühsam geordneter Unterlagen vor seinem Schreibtisch betrachtete, dass ein Mann, der zweifellos begnadete Arbeit in seinem Fach geleistet hatte, so völlig versagte, wenn es ums Schreiben ging. Vielleicht lag es aber auch am Thema. Nicht umsonst galten Selbstbildnisse als schwierig, und Autobiografien konnten die peinlichsten Machwerke sein. Wenn es um die eigene Person ging, verlor man rasch jedes Maß. Da war Freestones Methode sogar richtig: Er hatte sich professionelle Hilfe geholt. Einen Ghostwriter, ja, aber einen, den er sich zum persönlichen Sekretär schönreden konnte. Ein Stiller, der seinen

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