Die Herzen aller Mädchen
Trumpf, »vermutlich können wir den letzten Besitzer Ihres Ovid-Manuskripts bald finden. Es gibt eine heiße Spur.«
»Wieso sollten das schlechte Nachrichten sein?«, fragte Krampe.
»Na, da, wo es her ist«, erwiderte Bettina, »wird man das Manuskript vermissen.« Sie folgte ihm durch einen hohen hellen Flur mit vielen Fenstern. Das Frühlingslicht knallte herein und ließ das Gesicht des Kurators knittrig wirken. Er sah niedergeschlagen aus, bleich wie etwas, das zu lange im Keller gelegen hatte.
»Der Vorbesitzer hat es dieser Institution geschenkt«, antwortete er kühl. »Er vermisst es nicht, er weiß es am rechten Platz. Es ist ja schließlich nicht so, dass wir die einzelnen Seiten meistbietend versteigern, Frau Boll. Wir arbeiten mit dem Buch. Wir dienen der Wissenschaft und der allgemeinen Bildung.«
Bettina blickte ihn ernst an. »Wieso war die Schenkung anonym?«, fragte sie. »Welchen legalen Grund kann es dafür geben?«
Krampe seufzte. »Hunderte.«
»Nennen Sie mir einen.«
»Der Besitzer möchte sein Buch in guten Händen wissen, aber selbst in Ruhe gelassen werden.«
»Das hätte er ja zur Bedingung machen können.«
Krampe musterte Bettina von der Seite. »Wir hätten ihn trotzdem belagert. Nicht nur wir. Jeder Buchwissenschaftler in ganz Europa hätte versucht, in seine Bibliothek zu kommen. Der Vatikan hätte sich eingeschaltet, das orthodoxe Patriarchat, alle eis- und transalpinen Bibliotheken, die Kulturausschüsse, das Auswärtige Amt und schließlich unsere Polizei. Am Ende wären vermutlich Sie diejenige gewesen, die seinen Keller gestürmt hätte.« Jetzt grinste er fast. »Und Sie arbeiten ja noch daran.«
»Mit Hochdruck«, sagte Bettina.
»Falls Sie je dazu kommen, nehmen Sie mich mit, ja?«
»Wenn das Buch aber gestohlen wurde?«, fragte Bettina nur.
»Dann geben wir es zurück.«
»Und ziehen beispielsweise in den Vatikan und betteln jeden Tag um Einsichtnahme, um Ihre Forschungen fortsetzen zu können.«
»Nein.«
»Sie brauchen dieses Buch hier.«
Krampe blieb stehen. Sie waren in der gläsernen Schleuse angekommen, dem Übergang zum Bücherschlauch, vor der Tür, die man nur mit Code und Chip öffnen konnte. Draußen, hinter den dicken Glaswänden, zitterten Bäume im kalten Frühlingswind. Das Licht war milder und Krampe gewann an Farbe. Und Energie. »Frau Boll«, sagte er. »Diese Spur zum Vorbesitzer unseres Ovid, von der Sie reden, würde ich sehr gerne mal sehen. Wirklich.«
Bettina schüttelte den Kopf.
Er kratzte sich im Nacken. »Sehen Sie, ich kann daran nicht glauben. Wir arbeiten selbst intensiv an der Herkunftsanalyse. Und wir haben null Anhaltspunkte. Es ist schon schwierig genug, einen gewöhnlichen unbekannten Kodex zuzuordnen, aber hier geht es ja noch dazu um das geheime Projekt eines Einzelnen. Sie müssten das Ding mal sehen –«
»Gern!«
»… von außen ist es nur ein Heft. Es hat selbstredend keine Signatur, unbekannte Schreiberhand, ein kleines, fehlerhaftes und dilettantisches Schriftbild. Alles von gezielter Oberflächlichkeit. Der Macher dieses Buches wollte nicht entdeckt werden, und das ist ihm gut gelungen, Frau Boll.«
»Kann ich es denn mal anschauen?«, fragte Bettina.
»Nein.« Höflich fügte Krampe hinzu: »Es ist im Moment nicht da, aber wir werden bald über ein Faksimile verfügen, das dem Publikum zugänglich ist.« »Ich würde gern das echte Buch sehen.«
Er seufzte. »Wissen Sie, was ein modernes Faksimile leistet? Es ist völlig naturgetreu. Jede Naht, jedes Loch, jeder Fleck des Originals ist abgebildet. Selbst für den Großteil der Forschungsarbeit reicht es völlig aus.«
»Aber der Kodex ist tausend Jahre alt. Ich hab noch nie ein so altes Buch gesehen.«
Krampe seufzte. »Am Samstagabend gibt Dr. Ritter hier einen kleinen Empfang, um das Manuskript ein paar Freunden zu zeigen. Wenn Sie möchten –« Er brach ab und sah aus, als überlege er, ob er noch Herr seiner Rede war.
»Ist das eine Einladung?«, fragte Bettina überrascht. »Würden Sie mich mitnehmen?«
Krampe nickte wortlos.
»Am Samstagabend?« Bettina hörte selbst, dass ihre Worte zu erfreut klangen, zu vorsichtig, zu sehr nach Date – aber ein Treffen am Samstagabend war nun mal ein Date, wie auch immer man es nannte.
Krampe wand sich. »Rufen Sie mich vorher an«, sagte er barsch. »Meine Telefonnummern haben Sie ja – ermittelt.«
»Stimmt«, sagte Bettina.
»Ach so, ja, und wenn es irgendwann doch politisch notwendig werden
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