Die Herzen aller Mädchen
schmutzige Lederstiefel, mindestens Größe 46.
»Vielen Dank«, sagte sie, als sie fertig war, und kippte die letzten Tropfen aus ihrer Tasse herunter. »Jetzt möchte ich noch Ihren Aufenthaltsraum sehen.«
Die Männer blickten verständnislos. »Des isser«, sagte einer.
»Haben Sie keinen geheizten Unterstand, wo Sie sich mal aufwärmen können? Und Ihre persönlichen Sachen wegschließen? – Wir interessieren uns besonders für Schließfächer«, fügte Bettina bedeutungsvoll an und wies mit dem Finger gen Decke. »Beziehungsweise die da oben.«
Die Männer sahen sich an. Einer kratzte sich am Kopf.
»In den Bauwagen könnten wir was einschließen«, sagte Marc Schneider. »Aber hier ist es gemütlicher. Und wir kennen uns.
Wir sind ja alle vom Berger. Wir kommen morgens zusammen hierher. Wir tun unsere Sachen einfach ins Auto.«
»Darf ich den Bauwagen sehen?«, fragte Bettina.
Das war nun doch ein bisschen zu viel Theater. Die Männer seufzten, nahmen ihre Brote wieder zur Hand und blickten dann den Kollegen Schneider an: Du hast das Ding zur Sprache gebracht. Schneider erhob sich zögernd.
»Nur für den vollständigen Bericht«, sagte Bettina freundlich.
Also führte Schneider sie aus der Scheune, über den Hof und zu einem kleineren Parkplatz hinter den Wirtschaftsgebäuden, wo ein blauer Toilettencontainer, ein schmutziger weißer Bus mit einem Berger-Firmenaufkleber und ein neuer Bauwagen standen.
»Damit kommen Sie alle gemeinsam von der Firma?«, fragte Bettina und wies auf den Bus.
Schneider nickte. Er schloss das Fahrzeug auf und suchte einen Schlüssel aus dem Handschuhfach. Mit diesem öffnete er den Bauwagen. Dessen Inneres war einfach eingerichtet mit einem Tisch, einem Stuhl und einem kalten, rostigen Ofen. An einer Wand hing ein Auto-Kalender, ein aktueller, wie Bettina sah.
»Waschgelegenheiten?«, fragte sie und hob eine schmutzige Stofftasche, in der sich tatsächlich ein helles Paar Leinenschuhe befand. Größe 45 stand drin.
»Haben wir im Betrieb«, sagte Schneider, dessen Blick auf der Tasche klebte.
»Ins Bibliotheksgebäude dürfen Sie nicht?«
Schneider zuckte die Achseln. »Eigentlich schon, aber das ist nicht nötig. So dreckig werden wir hier auch nicht.«
»Gehen Sie manchmal dort rein?«
»Selten.«
Bettina hielt ihm die Tasche hin. »Wer braucht denn da Ausgehschuhe?«, fragte sie mit mehr Belustigung in der Stimme, als der kleine Scherz wert war.
Schneider lächelte misstrauisch. »Das sind meine. Wenns wärmer ist, kann ich den Bagger besser damit bedienen. Mehr Gefühl.«
»Hm.« Bettina dankte ihm und stellte die Tasche zurück. Nachdenklich folgte sie dem Mann hinaus und sah zu, wie er die Hütte und das Auto wieder absperrte. Nichts an ihm wirkte verdächtig, er war ein bisschen schwerfällig, das Gesicht von gesundem Braun, nicht Bettinas Geschmack, aber ein hübscher Kerl. Er konnte sehr wohl ein natürliches Interesse für das Gebäude haben, an dem er arbeitete, oder eine Vorliebe für Marny, vielleicht auch nur eine Abneigung gegen chemische Klos. Er konnte sogar aus Höflichkeit und Ordnungsliebe saubere Schuhe anziehen, wenn er in die Bibliothek ging, und er konnte zu prüde sein, um mit Bettina über seine Toilettengewohnheiten zu reden. Das konnte alles sein.
Oder aber er hatte einen anderen Grund.
* * *
Lisa träumte. Inzwischen hatte sie verschiedene Dinge übers Atmen gelernt. Erstens: Sie konnte nicht darauf verzichten. Zweitens: Es richtig zu machen erforderte höchste Konzentration. Ein tiefer Atemzug zum Beispiel beförderte sie augenblicklich ins Tal der Schmerzen. Wirklich erträglich war nur das flachste, sanfteste Hecheln durch die Nase, das aber konnte sie nicht ewig durchhalten. In den Momenten des Hechelns war sie zwar schmerzfrei, aber hoch angespannt und bestand ausschließlich aus Nase und Zwerchfell. Außerdem herrschte jederzeit die Gefahr, plötzlich von der eigenen Gier nach Sauerstoff übermannt zu werden und dann umso tiefer nach Luft zu schnappen. Daher versuchte Lisa, sich langsam an ein moderates Luftholen und die brennenden Schmerzen zu gewöhnen. Das war zwar ein trauriges Unterfangen, doch nur so konnte sie ihre dünne, dunkle Existenz aufrechterhalten. Nur so kam sie an jenen sonnenbeschienenen Meeresstrand. Und konnte denken. Lisa musste denken. Denn sie wollte wissen, wo sie sich befand. Welcher Strand und welches Meer dies waren. Wie sie hergekommen war, was sie hier wollte. Und ob es möglich war, durch
Weitere Kostenlose Bücher