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Die Herzen aller Mädchen

Titel: Die Herzen aller Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Geier
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die schweren Augenlider hindurchzublicken.
     
    * * *
    Fast wäre Bettina gar nicht ins Büro gefahren, denn auf die Leichenfledderei an der kleinen Lohmeier war sie nicht scharf. Aber ihr Bericht musste geschrieben werden, sie wollte noch Marc Schneider überprüfen, die Uhr zeigte erst halb eins, und die Alternative wäre gewesen, sich unter irgendeinem Vorwand zurück in die Bibliothek zu schmuggeln. Für heute aber fiel ihr beim besten Willen keiner mehr ein. Stattdessen befielen sie auf der Rückfahrt plötzlich Kopfschmerzen, und die zu ignorieren kostete ihre ganze Kraft. In Ludwigshafen war ihr schwindelig vor Schmerz. Sie fürchtete, dass sie etwas vergessen hatte, denn ihr Unterbewusstes schickte ihr zuweilen solche drastischen Erinnerungen. Leider kam sie nicht darauf, was es war. Irgendetwas hatte sie versäumt, übersehen, etwas Wichtiges oder auch ganz Banales. Eine Weile stand sie ganz still auf dem Flur der Dienststelle, doch das Pochen in ihrem Kopf blieb das Einzige, was sie wahrnahm. Schließlich betrat sie ihr Büro.
    »Das wurde vorhin abgegeben.« Nessa Kaiser hob kaum den rot gefärbten Kopf, so sehr war sie mit einer ihrer vielen Plastiktüten beschäftigt. »Die von der IT-Abteilung haben heute Nachmittag Zeit, Sie einzuführen, falls Sie das brauchen.«
    IT-Abteilung? Bettina verstand nicht. Und bei all den Dingen, die inzwischen von Nessa Kaisers Tisch auf ihren geschwappt waren, konnte sie auch nicht ausmachen, was das Abgegebene sein sollte. Alles war voller Tüten, Bilder, Notizen. Kaisers Computer brummte gefährlich, es roch nach billigem Parfüm, was Bettina reizte, und auf ihrer – Bettinas! – Fensterbank stand der Drachenbaum.
    Ein Baum, dachte Bettina mit dem Kopf voll Schmerz. Es ist nur ein Baum. Eine unschuldige Pflanze. Der Topf nahm nicht mal viel Platz weg, nur eine kleine Pappschachtel voller Stifte war seinetwegen beiseitegeräumt worden, die stand nun auf einem Stapel anderer Pappschachteln, die ebenfalls Schreibgeräte enthielten. Nicht schlimm. Stiftekisten waren ohnehin nichts, womit Bettina sich länger beschäftigte, in die unterste hatte sie vermutlich seit drei Jahren nicht mehr reingeguckt. Sie war nicht ordentlich, eher eine Träumerin, die höchstens Spesenabrechnungen für ihren Taunus sortierte. Alles andere, vom Büromaterial bis zu Klamotten, befand sich bei Bettina in einer Art natürlichem Erosionsprozess. Das Obere wurde benutzt, das Untere bedeckt und vergessen, ja von den nachfolgenden Objekten zusammengepresst, wobei manchmal eine Art Versteinerung erfolgte, wenn Filzschreiber ausliefen und zusammenbuken, zum Beispiel, und selten brachte eine große Eruption die Schichten durcheinander. Dann kamen Dinge zutage, die Bettina so fremd waren wie ein Haufen Dinosaurierknochen. Kurz: Sie war eine untypische Polizistin, eine, die auch gedanklich nie mit allen Fakten arbeitete. Aus bloßer Faulheit und der Unfähigkeit, gründlich aufzuräumen, hatte sie ein Gefühl für Oberflächen entwickelt, das im Lauf ihrer Arbeit so fein geworden war, dass sie aus wenigen offensichtlichen Fakten tiefgründige Schlüsse ziehen konnte. Doch das Prinzip hatte einen Haken: Es funktionierte nur mit einem Helfer. Sie brauchte ihren kleinen Pedanten an der Seite, der verhinderte, dass sie wichtige Details einfach vergaß. Willenbacher fehlte ihr. Ohne ihn hatte Bettina keine Rückmeldung, keine Absicherung, arbeitete ohne Netz in schwindelnder Höhe. Da war nur dieser Kopfschmerz, der aber nicht verriet, was nicht stimmte, und dazu ein künstlich verwüstetes Zimmer voller Plastiktüten, in dem kein Mensch einen klaren Gedanken fassen konnte. Und ein fieser stacheliger Drachenbaum auf ihrer Fensterbank.
    »Er braucht Schatten«, sagte Nessa Kaiser, die aufsah und Bettinas Blick folgte. »Ich hoffe, es stört Sie nicht«, fügte sie der Höflichkeit halber an, kritzelte jedoch schon wieder an ihrem Plänchen und fummelte dann mit ihrer Computermaus herum, den Blick konzentriert auf den Bildschirm gerichtet.
    Bettina schob ihren Stuhl beiseite.
    Nessa Kaiser arbeitete weiter.
    Bettina stemmte beide Beine fest in den Boden, packte ihren Tisch und zog ihn mit einem Ruck zu sich. Viele, viele Zettel und Plastiktüten stürzten in die entstandene Lücke zwischen den beiden Tischen. Wohltuende Leere entstand. Auch in Nessa Kaisers Gesicht.
    »Ich brauche Platz«, sagte Bettina. Eins hatte sie nie: das Chaos zelebriert. »Was ist für mich abgegeben worden?«
    Kaiser erhob sich

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