Die Herzen aller Mädchen
betrachtete er die dezenten handgeschriebenen Schilder, auf denen Anna ihre hausgemachte Biobutter, den Quark und einen sehr guten Silvaner von einem benachbarten Winzer bewarb. Vielleicht doch ein Kunde?, dachte sie ohne große Hoffnung. Da drehte er sich um und kam stracks auf die Küchentür zu. Anna erschrak und verzog sich weiter in den rückwärtigen Teil des Raums. Kein Kunde. Vielleicht ein neuer Gerichtsvollzieher? Nun hieb er energisch gegen die verschlossene Tür. Annas Herz klopfte ebenfalls heftig. Sie blieb im Schatten ihres Fliegenschranks stehen und öffnete nicht.
* * *
Die erzwungene Ruhe im Glasraum unter den Eichen machte Bettina schläfrig. Nach der Nacht. Und wieder grub etwas hinten in ihrem Kopf herum. Irgendeine wichtige oder auch nur besonders vorwitzige Information dümpelte ganz unten in den Tiefen ihres müden Gehirns und sandte SOS. Doch Platz für sie schaffen und gar nichts denken ging auch nicht, dann würde Bettina hier mitten im Raum einschlafen. Eine Weile sinnierte sie also über die Meldung von einem Einbruch in eine Molkerei bei Lautringen – wer machte denn so was? – und merkte erst nach Minuten, dass sie denselben Satz schon mehrere Male gelesen hatte, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen: »Die Täter entkamen ungesehen.« Das durfte nicht ihr Omen für diese Ermittlung werden. Bettina stand auf, streckte sich und ließ die Schultern kreisen, dann setzte sie sich wieder hin. Sie hatte noch Arbeit. Sie rief die Polis- Seite auf und tippte Marc Schneider ein, den blonden Bauarbeiter hatte sie gestern vernachlässigt. Doch Marc Schneider hatte keine Polizeiakte. Arbeit erledigt.
Bettina seufzte so tief, dass Ballier aufblickte. Rasch beugte sie sich wieder über den Monitor und tippte weiter: Anna Oberhuber, das war der erste Name, der ihr einfiel. Von der Wahrsagerin wusste das Programm einiges, allerdings nicht mehr als Bettina. Die spröde Maschine gab einfach keine persönlichen Details weiter. Es existierte nur eine einzige Person, über die Bettina hier noch etwas herausbekommen konnte. Und an diese Person wollte sie nicht denken. Doch nach ein paar weiteren leeren Minuten in dem stillen Raum sagte sich Bettina, dass sie Agazio ja tatsächlich nicht aufsuchen musste. Nur ansehen. Zögernd tippte sie seinen vollen Namen ein. Denn natürlich wusste sie den noch, sogar seine ehemalige Anschrift, seinen Ex-Arbeits- platz, alles. Genau dieselbe Überprüfung hatte sie schon einmal gemacht, vor Jahren, als der finstere Italiener Tag und Nacht um Barbaras Wohnung geschlichen war und sie zermürbt hatte. Eines Tages hatte Bettina sich den Typen heimlich geschnappt, ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und seinen Namen erfahren, den Barba nicht rausrücken wollte. Etwas so hart Erkämpftes vergaß man nicht. Und Agazio würde sie zumindest wach halten.
* * *
Der Mann aus Wiesbaden ging nicht. Er wanderte durch den Hof, riss Türen auf, schaute in den Stall zu den Kühen und würde demnächst den Weg ins Haus finden. Aber in ihrer Küche konnte Anna ihn nicht empfangen. Diesem siegesgewissen Fremden musste sie es schwer machen. Der sollte im Seminarraum mit ihr reden. Anna fuhr sich mit der Rechten durch die blonden Haare, zog ihre Arbeitshose zurecht – Umziehen ging jetzt nicht mehr – und verließ das Haupthaus durch den Keller. Der war eng, aber weitläufig, ein rechtes Labyrinth, er führte unter dem ganzen Gehöft hindurch. Eine sehr steile, baufällige Treppe im allerhintersten Teil brachte sie hoch in die ehemalige Werkstatt auf der anderen Seite des Hofs. Anna wischte sich die Spinnweben aus dem Gesicht, öffnete eine kleine verzogene Tür und stand in einem halbdunklen Raum, der einen Esstisch, mehrere Stühle und einen wuchtigen Schrank enthielt. Alle diese Möbel waren sehr alt und hätten im Tageslicht einer modernen Wohnung schäbig ausgesehen, hier jedoch in der Düsternis des kleinen Anbaus und auf dem durchgelaufenen Steinfußboden wirkten sie edel und sogar ein wenig einschüchternd.
Draußen brüllte der Fremde: »Hallo! Ist da wer?!«
Schnell schaltete Anna einen Elektroheizkörper an und entzündete eine der vielen Kerzen auf dem Tisch. Dann ging sie und öffnete die Tür. Ohne hinzusehen, sagte sie ruhig in den Hof: »Kommen Sie doch herrein! Ich habe Sie erwarrtet!«
Rasch begab sie sich zum Kopfende des Raums, wo das Waschbecken hing. Als der Fremde, nun nicht mehr ganz so forsch, endlich den Kopf zur Tür hereinstreckte, drehte sie das
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