Die Herzen aller Mädchen
Wasser auf und wusch sich mit professionellen Bewegungen die Hände. Seltsamerweise wirkte diese kleine Geste ausgesprochen Respekt einflößend, auch bei ganz schwierigen Klienten. Und sogar der unbefangene Fremde wagte nun nicht mehr, sich allzu ungeniert umzuschauen.
»Frau Oberhuber?«, fragte er.
»Schließen Sie die Tür«, befahl Anna.
Er gehorchte.
»Setzen Sie sich.« Sie sah ihn nicht an, trotzdem tat er wie geheißen. Er wählte sogar freiwillig den schlechtesten Platz, mit dem Rücken zur Tür. Anna fühlte sich jetzt viel ruhiger. Sie trocknete ihre Hände ab, ging zum Tisch, setzte sich und blickte ihm fest auf seine dunkle Brille. »Sie sind voller Frragen«, sagte sie ruhig.
»Ach, kommen Sie«, erwiderte der Mann gereizt. »Lassen Sie den Hokuspokus. Kriminalkommissar Jaecklein vom BKA. Falls Sie Frau Oberhuber sind, hätte ich tatsächlich Fragen an Sie.«
* * *
Agazio Maldestro war offiziell ein fast unbeschriebenes Blatt, und Bettina glaubte nach wie vor nicht daran. Doch das Polis gab auch über ihn nichts Neues her, nur ein altes Delikt, das Bettina ebenfalls schon kannte: Erschleichen von Leistungen, das konnte von Schwarzfahren im Zug bis zum unberechtigten Kassieren von Sozialhilfe alles Mögliche sein und klang so gar nicht nach dem fiesen Agazio. Die Überprüfung seiner alten Adresse ergab nur, dass er Deutschland vor knapp zwei Jahren verlassen hatte. Vermutlich war er nach Italien zurückgekehrt. Der Typ wurde wider Erwarten nicht gesucht. Und das war’s, dachte Bettina. Vorbei. Niemals würde sie Agazio Maldestro treffen, und ihr kleiner Enno erst recht nicht. Der Mann würde seine armselige Existenz anderswo und ohne sein Kind fortsetzen. Er würde keine Gelegenheit bekommen, Enno etwas zu tun.
Von Bailiers Sessel hörte Bettina einen kleinen Schnarcher. Das machte sie selber müde. Die Zeit schlich, die Bücher im Gang lachten sie aus, Krampe kam nicht, sie saß hier untätig mit einem ungeklärten Fall, ihr Privatleben war dürftig, ihre Erziehung ein Chaos und Agazio Maldestro ein Gespenst, an das sie sich tatsächlich nicht mehr richtig erinnern konnte. Sie blickte sein Bild auf dem Computerbildschirm an, dort wirkte er schmal und düster und fremd. Nie hätte sie ihn wiedererkannt. Für sie war er nur der kleine zitternde Wicht, dem sie die Knarre an die Brust gehalten hatte. Er hatte ihrer Schwester Schlimmes getan, jawohl, so wie all die anderen.
Leider aber wusste Bettina nicht mehr, was genau Agazio Böses verbrochen hatte, da hatte der farblose Hübner fatalerweise recht. Barbas Männer hatten so schnell gewechselt. Sie waren Nichtsnutze gewesen, allesamt. Der Schlimmste war John, der Vater von Sammy. Er hatte Barba geschlagen, Bettina war dabei gewesen. John konnte einer Frau aus dem Stand mit aller Macht ins Gesicht treten, und er hatte es getan. Bei Bettina. Sie hasste es, daran zu denken. Vermutlich war es sogar ein Glück, dass sie an diesem Tag ihre Pistole nicht bei sich gehabt hatte, denn dann hätte sie gezogen und gezögert zu schießen, und dann hätte das Biest sich die Waffe geschnappt und in wüster Raserei ein Blutbad angerichtet. Dann wären sie alle gestorben, Bettina, Barba und die Kinder dazu. Die Begegnung mit John war das Brutalste, was Bettina je persönlich erlebt hatte. Sie waren ihn losgeworden, doch ohne Pulsrasen und Schweißausbrüche konnte sie nicht daran denken. Und sie mochte keinesfalls daran denken, niemals. Er war eins dieser bösen gleißenden Lichter in der Seele, die man nicht anrühren durfte. Doch nun tat sie es und erkannte, dass sie mit John auch die Erinnerung an seine Nebenmänner fast ausgelöscht hatte. Seinetwegen war Agazio nur eine weitere Gefahr gewesen, ein Name, den sie aufgeregt in Erfahrung gebracht hatte, eine Straße, ein Ort, ein kleines Vorstrafenregister und – wie sie jetzt erst merkte – höchstens ein mutmaßlicher Säufer, Schläger, Kleinkrimineller und Versager. Sie wusste es nicht wirklich. Bettina dachte an Ansperger und seinen bretonischen Langustenfischer. Wenn sie richtig beim BKA wäre, dann könnte sie Agazio in Italien suchen. Er war es nicht wert. Das ahnte sie.
Aber wenn sie ihn fände, dann wüsste sie es sicher.
* * *
»Wieso möchten Sie des wissen?«, fragte Anna im Ton einer Therapeutin, die einem verwirrten Patienten auf die Sprünge half. Ihre Augen hielt sie gesenkt. Sie saß in dem alten Lehnsessel am Kopfende des Tischs. Die Atmosphäre war entspannt, obwohl Kommissar
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