Die Herzen aller Mädchen
ging hinaus auf die kalte Straße.
Nach der langen Nacht fühlte Bettina sich wie unter einer Glasglocke. Erstaunlicherweise machte das aber die täglichen Verrichtungen einfacher: Die Kinder waren folgsamer, der Taunus machte keine Mucken beim Anspringen, und im Büro waren Bettinas Tisch und Fensterbank und sogar ihre Wand wunderbar aufgeräumt, beziehungsweise in dem Zustand, der vor Nessa Kaiser geherrscht hatte. Auch die Kollegin selbst fehlte. Umso eiliger suchte Bettina aus der untersten Schublade eine alte abgewetzte Tasche für ihren neuen Computer und ging, um Mona, der Sekretärin, mitzuteilen, dass sie mit ihrem Laptop nun alle wichtigen Dateien mobil empfangen konnte. Anschließend fuhr sie unter einem riesigen Himmel durch eine helle Landschaft, die ihr in der Ferne vor den Augen verschwamm.
Draußen dann im engen Wald vor dem Kloster Rosenhaag ließen die Gefühle der Taubheit und des Schwimmens ein wenig nach. Die Luft hier war so kalt, dass sie in die Lungen schnitt, doch anders als zuvor wärmten nun zumindest die Sonnenstrahlen, und über den schwarzen Baumgerippen lag ein kaum merklicher hellgrüner Schein. Vor dem Kloster herrschte rege Tätigkeit, der Bagger brummte, verschiedene Lieferwagen standen auf dem Besucherparkplatz, Männer schleppten Pakete, der Wagen eines Elektroinstallateurs stand eng neben den Vector gequetscht, und Frau Ballier entstieg soeben gemessen einem geräumigen alten Benz.
»Da ist die Party«, sagte sie zu Bettinas Begrüßung, sowie die in Hörweite war, und wies auf die Lieferanten.
»Das sieht sogar nach einem rauschenden Fest aus«, sagte Bettina, die beiseitetrat, um drei Männern mit einem riesigen, in Noppenfolie verpackten Sofa Platz zu machen.
»Sind Sie denn auch eingeladen, Frau Boll?«
»Tja.« Bettina blickte den Monteuren hinterher. »Ich weiß nicht recht. Ich denke schon. Ja, in der Tat. Ich bin eingeladen.«
Ballier sah sie seltsam an und schnaufte ein wenig. »Komm, Liesel. Wollen mal sehen, ob wir heute zusammen reindürfen.«
Der Dackel wurde wie üblich ausgeschlossen, doch Ballier und Bettina hatten keine Probleme, in die Bibliothek zu gelangen, denn vor all den fremden Möbelpackern wirkten sie fast wie Teil der festen Belegschaft. An der Tür wurden sie von der hübschen Marny freundlich und etwas zerstreut begrüßt und fraglos einer anderen Dame übergeben, die sie ohne weitere Umstände durch die Schleuse in den langen gläsernen Bücherschlauch führte. Dort wurden sie gebeten, im vorderen Lesebereich Platz zu nehmen und zu warten. Herr Krampe verspäte sich. Ballier nickte, packte sofort ein Buch aus und machte es sich in einem Sessel mit Blick auf die Eichen bequem. Bettina hingegen stand unschlüssig herum mit ihrer schweren Tasche und dem Kopf voller Montes’scher Abenteuer. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie diese Bibliothek und Syra, die ihr nicht erlaubte, nach Darmstadt oder Haßfurt zu fahren, um die Arbeit zu machen, die sie konnte. Und Ballier verfluchte sie auch. Die linste so spöttisch über ihren Buchdeckel zu ihr hinüber. Möglichst würdevoll legte Bettina ihre Tasche auf einen freien Tisch und packte ihren Computer aus. In der Tischplatte war eine Steckerleiste mit Telefonanschluss eingelassen. Belauert von Bailiers Blicken schloss sie das Laptop an, so wie Ansperger es ihr gezeigt hatte. Und siehe da: Es funktionierte. Alles lief wie geschmiert. Und da ihr sonst nichts einfiel, las Bettina, vermutlich zum ersten Mal in ihrer Karriere, die kompletten Tagesmeldungen von vorne bis hinten durch.
* * *
Es war zehn Uhr vormittags, der Hof soeben gekehrt, da bretterte ein schwarzer BMW mit Wiesbadener Kennzeichen mitten hinein in die Hühnerschar, die friedlich vor Anna Oberhubers Küchentür gescharrt hatte. Gackernd stob das Federvieh auseinander, das Auto hielt an, und ihm entstieg ein kleiner Mann mit schütterem braunem Haar. Er sah sich um und setzte schnell eine Fliegersonnenbrille auf, die er in dem schattigen Hof nicht brauchte, jedenfalls nicht, um seine Augen vor Licht zu schützen. Anna wich von ihrem Küchenfenster zurück, hinter dem sie den Einzug des Fremden beobachtet hatte. Ein Klient war das nicht, auch kein Journalist. Dieser Typ sah aus, als wollte er ihr Haus versteigern. Ungeniert wanderte er umher und blieb kurz vor der großen rostigen Stahlskulptur einer dicken Frau stehen, die Anna ihrer Kundschaft zuliebe vor dem Haupthaus aufgestellt hatte, vermutlich taxierte er deren Wert. Dann
Weitere Kostenlose Bücher