Die Herzen aller Mädchen
Jaecklein sich ungeduldig gerierte. Doch seine Bewegungen waren nicht mehr so schroff, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Sind Sie irgendwann im Lauf der letzten Woche in Darmstadt gewesen?«, wiederholte er seine Frage.
»Nein«, sagte Anna. Dann fügte sie träumerisch an: »Darrmstadt, des ist in Rheinland-Pfalz, oder?«
»Hessen«, sagte Jaecklein unwillig. »Wo waren Sie denn am Samstag, dem zwölften? Was haben Sie an diesem Tag gemacht?«
Anna erklärte, sie sei am Freitag spätabends aus Leipzig gekommen, besser gesagt samstagmorgens, dann schilderte sie das Kühemelken in der Frühe und ließ kein Tier aus, dem sie tagsüber begegnet war. Klienten hatte sie auch gehabt. Ihr Terminkalender könne es beweisen. »Aber da muss ich Diskrretion walten lassen«, sagte sie ernst. »Die Leute haben ein Vertrrauensverhältnis zu mir. Des is fei sensibel, bevor ich Ihnen da Namen nenne, müssen Sie mir schon erklärrn, wozu ich des Alibi überhaupt brrauche.«
Kurz wurde die Fliegerbrille runtergeschoben, ein knapper Blick über den Rand streifte Anna, hier im Seminarraum war es viel zu dunkel, um damit zu sehen, doch Kommissar Jaecklein hielt sich lieber bedeckt. Schon saßen die Gläser wieder am alten Platz. Unsicher, dachte Anna.
Nun zog er eine Farbkopie aus seiner Aktenmappe, stand auf und legte sie vor ihr auf den Tisch. »Kennen Sie diese Postkarte?«, fragte er.
Anna fand sich gut. Sie war völlig beherrscht. Nur ihre Hand zitterte ein wenig, als sie nach dem Papier griff. »Ich hab fei meine Brrille net da«, sagte sie und hielt sich die Kopie dicht vor die Augen.
»Ist auch ein bisschen dunkel hier«, sagte Jaecklein süffisant.
Anna lächelte und ließ das Papier sinken. »Warrum sind Sie hergekommen?« Sie wusste, dass ihre hellen Augen in diesem Raum besonders gut wirkten, die waren das Schärfste an ihr, blickten aus der künstlich vertraulichen Atmosphäre heraus wie ein Feldstecher. Jaecklein verzog verächtlich den Mund und setzte dann seine Brille ab. Guter Junge, dachte Anna.
»Am Samstag«, sprach er, »wurde die Adressatin dieser Postkarte Opfer einer Paketbombe.«
»Oh«, machte Anna.
»Mordversuch«, setzte Jaecklein drauf. »Die Karte kam am gleichen Tag wie der Sprengsatz. Es steht was Komisches über Sterne drauf, ein aufgedonnerter esoterischer Spruch. Jemand wie Sie könnte das ohne Weiteres geschrieben und ernst gemeint haben.«
Anna hob sich die Kopie wieder vor die Augen. »Des ist Latein«, sagte sie schließlich. »Was heißt des?«
»Wissen Sie es nicht?«
»Nein.«
»Nimm den Himmel zum Geschenk, dort wirst du als Sternbild zu sehen sein.«
»Hübsch«, sagte Anna.
»Gespenstisch«, sagte Jaecklein.
Sie sah ihn spöttisch an. »Aber net von mir.«
* * *
Bettina gierte nach einer Zigarette, doch sie mochte die Bibliothek nicht zum Rauchen verlassen, weil sie nicht sicher war, wieder eingelassen zu werden. Aus lauter Verzweiflung stand sie auf, zappelte herum und sah sich Buchrücken an. Sie fragte sich, wann Krampe endlich kam. Es war nicht auszuhalten in diesem engen Schlauch. Die Sandsteinwände der Kirchenruine warfen grünliche Schatten über sie, die Bäume draußen bewegten sich im Wind und trieben aus, nur hier drin bei den Büchern standen Luft und Zeit. All diese Worte, die hier aufbewahrt wurden, waren so schrecklich alt. Niemand konnte sie mehr spontan verstehen, es waren bloß Reste, farblose Zeugen versunkener Welten, Gräber und Nachrufe. Bettina hatte Lust, die Fenster einzuschlagen und Luft einzulassen.
»Geht’s Ihnen gut, Frau Boll?«, fragte Ballier hinter ihrer Lektüre hervor.
»Bestens«, sagte Bettina.
Ballier streckte sich behäbig. »Ich geh mal eben nach Liesel schauen. Kommen Sie mit raus?«
So gern Bettina gefolgt wäre, mochte sie es doch nicht, dass Ballier ihr haargenau ansehen konnte, wie sie sich fühlte. »Nein, ich muss da noch was überprüfen«, sagte sie mit Blick auf den Computer.
Ballier lächelte und ließ Bettina noch unzufriedener zurück. Sie zwang sich zurück an ihr Laptop und dachte neidvoll an die Kommissare aus den amerikanischen Krimis, die nur den Vornamen einer Person (»Bob«) brauchten, um vom Schulabschluss bis zu körperlichen Merkmalen einfach alles zu erfahren. Dabei war die Vision gar nicht mal so unrealistisch: New Yorker Cops mussten einen Verdächtigen tatsächlich nur auf den Scanner ihres Palms fassen lassen, um innerhalb von Minuten einen automatischen Vergleich mit allen
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