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Die Herzen aller Mädchen

Titel: Die Herzen aller Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Geier
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Marny warf einen Blick auf ihre winzige, diamantenbesetzte Uhr. »Falls Sie Hunger haben jedenfalls. Wir müssen jetzt runter. Der Hauptgang wird gleich serviert.«
     
    Unten strömten inzwischen die Gäste in die Halle zurück, nahmen die Sessel in den Nebenzimmern in Beschlag, belegten die Plätze am Kamin und machten sich über das Buffet her. Dr. Ritters schwarzes Haupt schwebte über einem großen Teller voll kleiner Häppchen, zwei ältere Herren standen bei ihm und redeten, doch er hörte ihnen nicht zu. Seine Augen blickten suchend umher, während er aß. Bettina duckte sich unwillkürlich und machte, dass sie ungesehen die Treppe hinunterkam. Dies war vermutlich der allerbeste Zeitpunkt, den Ovid-Kodex einmal allein zu sehen. Rasch schob sie sich durch die Menge in Richtung Refektorium. Es war tatsächlich fast leer bis auf ein Paar, das die Fotos an der Wand studierte, und zwei schwarze Wachmänner, die rechts und links von dem Buch auf der Bühne Posten bezogen hatten. Bettina wollte zu ihnen hinaufsteigen und wurde sehr höflich aufgefordert, das zu lassen. Den Hinweis, dass sie Polizistin war, sparte sie sich, der würde höchstens Dr. Ritter auf den Plan rufen. Sie wanderte also ein wenig bei den Fotografien herum und gerade, als sie dachte, dass es vielleicht netter wäre, mit etwas zu trinken in der Hand zu wandern, kam Krampe zur Tür herein.
    »Da sind Sie!« Das klang vorwurfsvoll.
    »Und Sie auch!«, sagte Bettina.
    »Also kommen Sie«, sagte er kurz angebunden.
    »Wohin?«, fragte Bettina.
    »Sie wollten doch den Ovid sehen.« Er schaute sie an. »Oder reicht Ihnen der Exkurs in Purpurrot?«
    Bettina blickte seinen grünen Pullover an. »Natürlich nicht.«
    »Also dann – Bettina.« Er reichte ihr den Arm.
    Bettina hakte sich ein. »Woher kennen Sie meinen Vornamen?«
    Er zuckte die Achseln. »Sie kennen meinen ja auch.«
    »Aber ich bin Polizistin.«
    Er ließ sie los. »Wollen Sie den Ovid jetzt sehen oder nicht?«
     
    Krampe wurde nicht ganz so anstandslos auf die Bühne gelassen wie Dr. Ritter, er musste erst ein Gespräch mit dem Wächter führen. Ein kurzes allerdings. Dann nahm er Bettinas Hand und half ihr auf das Podest. Und dann standen sie gemeinsam vor dem Buch. Es war unschuldig zugeklappt und sah auf dem schwarzen Samt sehr armselig aus. Man hatte weniger den Eindruck von Alter als von Dürftigkeit, das ganze Ding wirkte wie ein großes, schmutziges braunes Heft. Nur dass es aus Pergament statt Papier bestand, konnte sogar Bettina irgendwie erkennen, wenn sie auch nicht genau wusste, woran. Das Material sah ein wenig samtiger und ledriger aus. »Darf ich es anfassen?«, fragte sie.
    Krampe nickte.
    Bettina schlug das Buch auf. Viel anders als Papier fühlte es sich nicht an, vielleicht etwas weicher. Auf der ersten Seite stand nichts.
    »Das ist das Vorschlagblatt«, sagte Krampe. »Falls das Buch eine Bibliothekssignatur hätte, müsste sie hier sein. Oder ganz hinten, aber da steht auch nichts.«
    »Vielleicht fehlt ein Stück. Da sind ein paar ausgerissene Stellen«, sagte Bettina und wies auf den Rand.
    »Die sind überall«, antwortete Krampe leichthin und blätterte weiter. »Eine der tollsten Sachen an diesem Buch ist, wie es sich tarnt.« Er warf Bettina einen Seitenblick zu. »Hier. Das sind Psalme. Ganz ordentlich, der richtigen kanonischen Reihenfolge nach. Der Schreiber geht gleich in die Vollen, keine Vorrede, kein Kalender, keine Initiale, nichts. Alles sehr klein geschrieben. Unleserlich. Abweisend geradezu. Trotzdem ist das authentisch, denn ein Psalter ist ein Andachtsbuch, das auch zum privaten Gebet genutzt wurde. Psalter existierten in jeder Ausstattungsform, von der Prachtausgabe bis zum sparsamsten Gebrauchstext. Da. Sehen Sie?« Er schlug den Kodex wieder zu. »Er hat nur einen Pergamenteinband, keine Holzdeckel, nie gehabt. Die Bindung ist noch original aus dem dreizehnten Jahrhundert. Vermutlich hat es Hunderte dieser schlichten Art gegeben, die haben bloß die Zeiten nicht überdauert. Die wurden einfach verbraucht.«
    »Nur dieser hat überlebt«, sagte Bettina. »Weil er gar nicht echt ist. Er hat ein Geheimnis.« Sie gab den Seitenblick zurück.
    »Das nicht leicht zu finden ist.« Um Krampes Mund zuckte ein unruhiges Lächeln. »Wenige Menschen haben es bisher geschafft. Sonst wäre er nicht hier.«
    »Es musste die richtige Person kommen, ihn zu finden.«
    Sie sahen sich an. Einen Moment waren Krampes graue Augen von flehentlicher Tiefe. Dann

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