Die Herzen aller Mädchen
mitbringen musste. Alle Worte aus Krampes Mund klangen hier wunderbar, auch wenn Bettina nicht wusste, was sie bedeuteten: »Si tibi per tutum planumque negabitur ire atque erit opposita ianua fulta sera, at tu per praeceps tecto delabere aperto, det quoque furtivas alta fenestra vias.«
»Ich verstehe Sie nicht.« Sie räusperte sich, weil ihr die eigene Stimme plötzlich in den Ohren hallte.
»Oh doch«, erwiderte Krampe leise.
»Ich kann kein Latein.«
»Ist es dir versagt, auf sicherem und ebenem Weg zu wandeln«, sprach er auswendig, »und ist die Tür verschlossen und der Riegel vorgeschoben, so …«
»So …?« Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr gerade zu stehen. Gleich würde sie vom Podest fallen. Sie sollte sich besser an jemandem festhalten.
»Brich bei ihr ein«, flüsterte er, und sie konnte die Worte spüren, sie streiften ihre Wange und kitzelten ihr Ohr. »Gleite du senkrecht hinab durch die Öffnung im Dach.«
»Ach, da sind Sie«, sagte Dr. Ritters trockene Stimme aus dem Hintergrund. »Nun reißen Sie sich mal von dem Buch los, Gregor, wir brauchen Sie hier.«
Gregor riss sich von der Frau los und drehte sich um. »Lieber Roland«, sagte er in einem Ton, den er nicht kontrollieren konnte und der vermutlich zu barsch war, »das Buffet werden Sie doch sicher ohne mich leerkriegen.«
Dr. Roland Ritter, Besitzer von mehreren tausend Drogeriemärkten, drei Landhäusern, einem Schloss in den Pyrenäen, einem Gestüt in Holstein, einer Yacht vor Antibes, einer mittelalterlichen Bibliothek, einem Doktortitel, einer Familie, einem Fuhrpark mit Vector W8 und einer entzückenden Privatsekretärin, also dieser mutmaßlich rundum befriedigte Mann stand mit einem schmutzigen leeren Teller in der Hand an der Tür des Refektoriums und schaute begehrlich auf die Frau an Gregors Seite. »Ich vergaß, Sie essen ja nie«, sagte er abfällig, ohne den Blick von der rothaarigen Gestalt zu wenden. »Aber die Frau Boll muss zumindest probieren, darauf bestehe ich.«
Gregor sah aus den Augenwinkeln, wie der schwarze Rock neben ihm zurückschwang, wie die Füße in den Pumps sich in Bewegung setzten, als wollten sie tanzen. Sie wird zu ihm gehen, dachte er panisch. Sie wird sein neues Projekt. Sie wird ihre eigene Detektei bekommen, einen Pistolenladen, Stipendien in Salem für ihre Kinder, was immer sie will. Dann ist Bianca frei. Er versuchte sich zu freuen. Da spürte er Bettinas Schulter an seiner. Sie war näher zu ihm gerückt.
Sein Chef aber hob einladend den Teller und lächelte jungenhaft unter seinen komischen schwarzen Haaren hervor. »Täubchen in Weinsoße«, sagte er bedeutungsvoll. »Ein venezianisches Rezept aus der Zeit des Dritten Kreuzzugs. Mit Rosmarinblüten und bitterem Honig von der adriatischen Küste. Das können Sie sich nicht entgehen lassen. Die Tauben stammen exklusiv von –«
« … der Piazza San Marco«, raunte Gregor ins warme Rot neben sich. Es gluckste.
« … und aus garantiert biologischer Aufzucht«, schloss Ritter. »Na wie wärs?«
»Oh«, machte Bettinas rauchige Stimme neben Gregor. »Tja, danke. Aber ich habe gar keinen Hunger. Und der Herr Krampe spricht gerade so interessant.«
»Worüber denn?«, fragte Ritter und trat näher.
Gregor hörte, wie Bettina Luft holte. »Hm …«
»Bindungen«, improvisierte er. Wieder hörte er dies unterdrückte Glucksen neben sich.
Ritter zog die Brauen hoch.
»Wir hatten es vom gemeinen Quaternio«, sprach Gregor trocken. »Ich habe ihr gezeigt, wie die Palimpsest-Seiten vierfach ineinandergelegt und geheftet sind, im Gegensatz zu den einzelnen Bifolien mit den Miniaturen.«
»Ach so«, sagte Ritter und kam heran. »Das ist auch wirklich hochinteressant.« Er bestieg die Bühne, drückte kurzerhand einem der Wachmänner seinen Teller in die Hand, wischte sich die Finger an seinem 10000-Euro-Jackett ab und griff nach Bettinas Arm. Sie zuckte zusammen. »Hat er Ihnen gezeigt, wie die Bilder versteckt wurden? Das ist raffiniert und einzigartig. Kommen Sie mal her.« Ritter zog seine rothaarige Beute zu dem Buch zurück. Gregor hörte sie ergeben seufzen. Ritter offenbar nicht. Er dozierte wacker drauflos. »Hier, erkennen Sie das? Vier Blatt ineinander, das einzelne heißt Bifolio, vier zusammen Quaternio, das kommt vom lateinischen quattuor, vier, ist ja klar, und hier die Bilderseiten, sehen Sie nur, wie die versteckt wurden! Da hat man das einzelne Bifolio aus dem Original nur an der Rückseite ausgekratzt, am
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