Die Herzen aller Mädchen
schaute er auf das Buch und sagte finster: »Vermutlich wird niemand je alle seine Geheimnisse entschlüsseln. Es sind zu viele. Sie sind zu alt, zu verschieden und vielleicht auch zu banal.« Er seufzte.
Bettina betrachtete seine schlanken Hände, die das Pult umfassten. »Frau Ballier sagte, bei diesem Buch ginge es nur um eins.«
»Den Preis, den es erzielen kann«, sagte Krampe sofort.
»Die Liebe«, widersprach Bettina.
Krampe lachte leise. »Die Frau Ballier. Von Geld hat sie nichts gesagt?«
Bettina schüttelte stumm den Kopf.
»Also«, sagte Krampe und begann wieder in dem Buch zu blättern. »Zunächst sind das Psalme. Schauen Sie, Psalme. Seitenlang.«
Bettina rückte näher und schaute die Psalme an und Krampes schmale Hand, die sie wendete, und sie sah, dass er zittrig war, sie roch seinen Wollpullover und sein holziges Aftershave und wusste nicht, was ihn umtrieb.
»… auf altes Pergament geschrieben, das zuvor abgekratzt wurde. Das ganze Material inklusive dem Einband stammt aus einem einzigen älteren Kodex, der besagten Ovid-Prachtausgabe. Wir glauben, dass sie im Konstantinopel der ersten Jahrtausendwende entstanden ist. Dort herrschte für kurze Zeit ein relativ liberales Klima.«
»Ein interessanter Libertin hat sie gemacht«, sprach Bettina gedehnt. »Ein reicher, superattraktiver Mann.« Sie senkte die Stimme. »Und Purpurfetischist.«
Krampe ließ das Buch los und sah sie belustigt an.
»Der sich vielleicht sogar die Haare gefärbt hat.« Bettina grinste.
»Pst!«, machte Krampe. »Nicht doch. Ihr Spott ist ungerecht.«
»Wieso?«
»Ganz so doll durfte man sich auch nicht austoben. Und Ihr Libertin kann das Buch nicht allein gemacht haben. Damit war eine ganze Werkstatt beschäftigt. Mönche. Die dazu zu bringen, ein so – weltliches Buch dermaßen reich auszustatten, war erstens nicht billig und zweitens vermutlich gar nicht ohne Weiteres möglich. Es ist tatsächlich gewagt und ungewöhnlich.« Krampe schlug ein neues, höchst unspektakuläres Blatt mit Psalmen auf und klappte dann vorsichtig die rechte Seite von innen nach außen. Auf dem ausgeklappten Blatt zeigte sich ein düsteres Bild. Die wenigen leuchtenden Farben blieben einem schwer gerüsteten jungen Mann vorbehalten, der sich erst links unten durch ein unwirtliches, verschneites Gebirge kämpfte, dann mittig an einem kahlen Baum auf der Erde ruhte und rechts oben den Altan eines strengen Gebäudes erklomm. Dort erst kam er – weidlich erschöpft aussehend – zu seinem Recht: Im Innern des Hauses erwartete ihn eine zarte, leicht gewandete Blondine.
»Das Buch hat einer sehr mächtigen Person gehört«, sagte Bettina.
»Oh ja.«
»Dem Kaiser?«
Krampe zuckte die Achseln. »Wer weiß?« Erstmals an diesem Abend sah er gelöst aus. »Eher seinem Bruder, wenn Sie mich fragen. Irgendeinem Angehörigen dieser unübersichtlichen mazedonischen Feldherrensippe, die damals über Ostrom herrschte. Ein gescheiterter Militär, der Kaiser anstelle des Kaisers werden wollte, aber nie zu Potte kam, den man mit Privilegien ruhigstellte und der sich den Ausschweifungen weltlicher Literatur hingab. Ovid ist der richtige Autor dafür. Er stammte selbst aus einer großen Kriegernation, in der er nichts zu sagen hatte. Daher orientierte er sich um. Militiae species amor est.« Das sagte Gregor Krampe mit einem kleinen Funkeln im Auge. »Die Liebe ist ein Kriegsdienst, Bettina.«
»Der arme Ovid.«
»Oh, er wird es wissen.« Kaum sichtbar spielte ein Lächeln um Krampes Lippen. »Da steht es: Amor odit inertes , Amor hasst die Trägen.« Er beugte sich vor und wies auf einen langen Text, der links von dem Bild in zwei zierlichen Spalten geschrieben stand, und zwar in völlig anderer, weit kunstvollerer Schrift als die Psalmen. Für Bettina war er allerdings ebenso unleserlich. »Nox et hiems longaeque viae saevique dolores mollibus his castris et labor omnis inest.« Er hielt inne, den Finger am Text, und blickte zu ihr zurück.
Bettina rückte noch näher. »Was heißt das?«
»Nacht und Sturm, lange Wege sowie wilde Schmerzen und alle möglichen Arbeiten gehören zu – na ja, zur Liebe dazu.« Das klang ergeben und so, als sei Krampe wohlwissend zu alledem bereit. Seine Augen strahlten. Aus dieser Nähe, wo ihre Arme sich berührten und die Linien seines Gesichts weicher waren, schien es weit natürlicher, über Lächerliches, Pathetisches, die Liebe zu sprechen. Das Wort klang besser, wenn es seinen Glanz nicht selbst
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