Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
das zu erzählen, Paige ... Du rechnest wohl kaum mit meinem Segen. Wann wirst du anfangen, dich wie ein erwachsener Mensch zu verhalten?«
Bei diesen Worten zuckte sie zusammen, als hätte er sie geschlagen. Dann schluckte sie krampfhaft. »He, Daddy – ich
amüsiere mich! Für all diese Scheiße ist das Leben zu kurz ...« Lautlos ließ sie ihre Tränen fließen.
In seiner Stimme schwang kalte Missbilligung mit. »Jetzt muss ich mich wirklich anziehen, Paige. Wenn du bereit bist, dich so verantwortungsbewusst zu benehmen wie deine Schwester, werde ich gern mit dir reden.« Ein scharfes Klicken beendete das Gespräch.
Unbewegt stand sie da, den Hörer immer noch am Ohr, die nasse Wange an die Wand gepresst, wo ihre Tränen die flüchtig hingekritzelten Obszönitäten und Telefonnummern mehrerer Jahrzehnte verschmierten. »Lass mich nicht im Stich«, wisperte sie. »Niemals habe ich dich absichtlich geärgert. Ich wollte nur, dass du mich beachtest und stolz auf mich bist. Bitte, Daddy. Sei ein einziges Mal stolz auf mich.«
Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss, und ein junger Mann ging den Flur entlang, auf dem Weg zur Arbeit. Paige hängte den Hörer ein und richtete sich so abrupt auf, dass ein heftiger Schmerz durch ihren Rücken schoss, als hätte man ihr flüssigen Stahl injiziert. Das Kinn erhoben, schlenderte sie an dem Hausbewohner vorbei und wiegte sich scheinbar unbeschwert in den Hüften.
Ein langer, leiser Pfiff folgte ihr.
Verächtlich warf sie den Kopf in den Nacken. »Fahr zur Hölle, Arschloch.«
Susannah steuerte den silberfarbenen Mercedes, den Joel ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, auf den Parkplatz des Palace of Fine Arts. Wie eine barocke Hochzeitstorte erhob sich der Rundbau über die anderen Gebäude des Marina Districts. Bei ihrer Ankunft in der City von San Francisco hatte es zu nieseln begonnen. Mit zitternden Fingern schaltete sie die Scheibenwischer und den Motor ab. Dann berührte sie nervös ihr sorgsam frisiertes Haar, stieg aus und sperrte den Wagen ab.
Als sie den Schlüssel in ihre kleine lederne Schultertasche steckte, hatte sie das Gefühl, eine Fremde würde von ihrem Körper Besitz ergreifen – eine rastlose, rebellische Fremde. Warum tue ich etwas, das kein bisschen zu meinem Charakter passt, fragte sie sich zerknirscht. Sie benahm sich gerade genauso verantwortungslos, wie sie es ihrer Schwester ständig vorwarf.
Sie überquerte den Parkplatz, ging zum Hauptgebäude und erinnerte sich an die Geschichte des Palace, damit sie nicht an ihre Unvernunft denken musste.
1915 war der Palace of Fine Arts erbaut worden, anlässlich der internationalen, zur Feier der Eröffnung des Panamakanals veranstalteten Pan-Pazifischen Ausstellung. In den späten fünfziger Jahren hatte man das Gebäude vor dem Verfall gerettet, und jetzt enthielt es das Exploratorium, ein wissenschaftliches, vor allem bei Kindern sehr beliebtes Museum, das den Besuchern diverse Experimente ermöglichte. Bis vor kurzem hatte Joel dem Aufsichtsrat angehört, dann war Susannah seine Nachfolgerin geworden.
Sie wanderte am Exploratorium vorbei und folgte dem Weg, der zum Rundbau neben der kleinen Lagune führte. Allen Elementen geöffnet, wurde die Rotunde mit den massiven Säulen von einer Kuppel überwölbt, um die sich ein klassizistisches Fries zog. Trotz einer Wollhose, eines Pullovers mit Zopfmuster und eines Blazers fröstelte Susannah, und sie wünschte, sie hätte wärmere Sachen angezogen. Aufgeregt betastete sie ihren Verlobungsring, den einzigen Schmuck, den sie außer einer schmalen Armbanduhr trug.
»Weniger ist mehr«, hatte ihre Großmutter oft betont. »Denk daran, weniger ist immer mehr.« Aber manchmal dachte Susannah, wäre weniger einfach nur weniger.
Beklommen und schuldbewusst schaute sie sich um. Wäre sie bloß nicht hierher gekommen ... Sie versuchte sich
einzureden, dazu hätte sie sich nur aus Neugier auf den Inhalt von Sam Gambles Lederkoffer entschlossen. Doch sie fürchtete, dass das nicht stimmte.
»Also habe ich Sie richtig eingeschätzt.«
Verwirrt drehte sie sich um und sah ihn in die Rotunde schlendern. Auf seiner Jacke perlten Regentropfen, etwas Silbernes schimmerte durch seine dunklen Haare – ein Ohrring. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Was musste das für eine Frau sein, die ihrem Vater und ihrem Verlobten entfloh, um einen Mann mit einem Ohrring zu treffen?
Er stellte seinen kleinen Koffer neben einen Sägebock und ein paar Holzkisten, die für
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