Die Herzogin, ihre Zofe, der Stallbursche und ihr Liebhaber
so lange belogen hätte, hätte sie es vielleicht früher begriffen. Alles hätte ganz anders kommen können. Wann hatte das alles begonnen? Wo und wann hatte sie sich zum ersten Mal verloren? Wer wäre in der Lage gewesen, ihr zu helfen, wenn sie um Hilfe gebeten hätte? In Gedanken packte sie sich selbst bei den Schultern und schüttelte sich. Sie durfte nicht ständig über die Fehler der Vergangenheit nachdenken, oder diese Fehler würden sie verschlingen.
Camille folgte Henri in die Sattelkammer, in den Geruch nach Leder, Öl und Politur. Sie ließ seine Hand los, um die Tür hinter sich zu schließen, und fand sich ganz allein in der fast vollständigen Dunkelheit wieder. Nur unter der Tür war ein leichter Lichtschimmer zu erkennen, ebenso durch ein paar Risse im Holz. Schwach nahm sie Henris Duft nach Sandelholzseife und den Salzen der heißen Quelle wahr, doch sie konnte ihn nicht sehen. Sie musste an eine Nacht vor zehn Jahren denken, in der sie in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers gelegen hatte. Ihre Handgelenke waren ans Bettgestell gefesselt, und sie wartete auf Michel, der seine Gelüste an ihr stillen würde. Bei jedem leisen Geräusch war sie zusammengezuckt. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt. Sie war so froh gewesen, als er schließlich kam und eine brennende Kerze mitbrachte. Das Licht hatte ihre Angst schwinden lassen. Sie war ihm fast dankbar dafür gewesen, bis er das geschmolzene Kerzenwachs auf ihre Brustwarze gegossen hatte.
Henri stieß gegen irgendetwas, schrie auf und fluchte. Als sie auf diese Weise in die Gegenwart zurückgeholt wurde, begann sie zu lachen. Das hier war die Wirklichkeit: Das hier war es, was sie in ihrem Leben wollte. Sie wollte die Möglichkeit, zu stolpern und zu fallen und schließlich doch noch ihr Ziel zu erreichen. Endlich war sie frei. Sie hatte sich selbst befreit. Und sie hatte einen wunderschönen, kraftvollen Liebhaber, der sich bestens aufs Fluchen verstand.
Henri stieß gegen ihren Arm, ließ seine Hand daran entlang bis zu ihren Schultern wandern und zog sie in seine Arme. Eine Weile lachte sie noch über die Absurdität ihres Lebens und klammerte sich dabei an der Vorderseite seines Hemds fest. Schließlich küsste er sie, was ihr auch komisch erschien. Seine Bartstoppeln kitzelten sie. Seine Zunge glitt in ihren Mund, sie griff mit beiden Händen nach seinem Kopf, zog ihn näher zu sich heran und dann küssten und küssten und küssten sie sich.
Als sie aufhören musste, um nach Luft zu schnappen, stellte sie fest, dass ihr Rücken gegen eine Wand gepresst war. Durch ihr dünnes Kleid konnte sie die rauen Steine fühlen, und sie rieb genüsslich ihre Schultern daran, während sie eine Hand über Henris Wange und Kinn gleiten ließ und sich mit der anderen an seinem Hemd festhielt. “Ich habe keine Ahnung, warum ich das hier eigentlich tue”, stellte sie fest. “Wir sollten in unser Zimmer gehen und uns bequem hinlegen.”
“Du willst jetzt nicht aufhören”, stieß Henri nervös hervor.
“Nein. Dazu ist es zu spät.” Camille strich mit einer Fingerspitze an seiner Nase entlang und folgte dann der Linie seiner Lippen. “Was soll nur aus uns werden? In einem Palast gibt es keine Geheimnisse.”
Henri berührte ihr Gesicht. Zunächst nur ganz leicht, dann mit zärtlichem Nachdruck, in dem mehr Sicherheit lag. Seine Daumen glitten über ihre Wangenknochen. “Ich möchte nicht, dass du dich für mich schämst”, erklärte er. “Irgendjemand wird herausfinden, wer ich bin und wo ich herkomme, ganz egal, was wir sagen oder tun. Vielleicht … wenn ich nur selten zu dir käme …”
“Nein”, widersprach Camille. “Keine halben Sachen. Du wirst bei mir im Palast leben.” Als er nichts erwiderte und seine Hände plötzlich bewegungslos auf ihrer Haut lagen, fragte sie: “Würdest du das für mich tun?”
“Ich habe Angst”, antwortete er mit ganz leiser Stimme. “Aber … du gibst mir genug Gründe zu versuchen, mehr als nur ein Stallbursche zu sein. Das war das Erste, was ich von dir gelernt habe, als ich neu im Stall war und dich reiten sah. Ich wollte reiten wie du. Wenn es mir nicht darum gegangen wäre, hätte ich niemals das Training deiner Pferde übernommen, und du und Sylvie hättet mich vielleicht nie gesehen, und wir hätten vielleicht niemals … Du hättest mich niemals auserwählt.”
Camille dachte über das nach, was er gesagt hatte. Dann beugte sie sich vor und presste ihre Lippen erst auf
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