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Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Glaesener
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ist schrecklich, aber … Man kann so etwas doch nicht verallgemeinern«, meinte Sophie schockiert. »Edith ist tatsächlich eine Hexe. Ich habe gesehen, wie sie zauberte – mit eigenen Augen.« Sie berichtete von der Nacht im Hexenturm, von all dem Widerlichen, was dort geschehen war, und zwar tatsächlich und nicht im Kopf eines Inquisitors, und Julius nickte und sah keineswegs so überzeugt aus, wie sie es sich wünschte. Was bildete er sich ein? Dass sie log, um sich wichtigzumachen?
    Er winkte sie zu einer Abzweigung, und wenig später tauchte die Stadt Speyer vor ihnen auf. Die Ansiedlung kam Sophie, die kaum jemals das väterliche Gut und die Wildenburg verlassen hatte, riesig vor. Hinter hohen, massigen Mauern erhoben sich mit Kreuzen gekrönte Kirchtürme und die roten Schindeldächer der Patrizierhäuser. Vor der Stadt floss ein schmales Gewässer, auf dem Kähne dümpelten und an dessen Ufer Hütejungen in warmen Jacken Schafe und Gänse zusammentrieben, denn es dunkelte bereits.
    Auch hier wurde der Krieg wieder sichtbar, und zwar in Form von Zelten und hölzernen Schießständen, die ein großflächiges Areal vor der Mauer bedeckten. Söldner in abenteuerlichen Uniformen schlenderten über die Wege, die sie ins Gras getreten hatten. An einem Spieß drehte sich ein kompletter Ochse, und eine Frau mit einem kräftig bemalten Gesicht schäkerte mit dem Soldaten, der den Spieß drehte.
    Julius dirigierte sein Pferd mit dem abfälligen Gesicht, das er immer aufsetzte, wenn er mit Soldaten zusammentraf, auf eine Holzbrücke zu. »Hat er …« Er hüstelte, um Sophies Aufmerksamkeit zu erregen. »Marx. Hat er sich Euch irgendwie in einer Weise … ich meine … ungebührlich …«
    Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf er hinauswollte. »Ach, Julius!«, meinte sie mit einem Seufzer.
    »Das habe ich befürchtet. Der Schweinehund!«
    »Ihr dürft das nicht sagen. Es war nicht …« Sie errötete. »Es ergab sich irgendwie, und ich glaube, er wollte es selbst nicht und fühlte sich müde und hatte nicht die Kraft …«
    »Doppelter Schweinehund!«
    »Er wusste nicht, wie ihm geschah.«
    »Marx weiß immer . Dass ist seine gottverdammt hervorstechendste Eigenschaft. Er ist berechnend bis aufs letzte Sandkorn in der Uhr. Ihr müsst diesen Zwischenfall für Euch behalten, das ist Euch doch klar, ja? Gerade jetzt, beim Prozess. Und für die Torwachen«, wechselte er abrupt das Thema. »seid Ihr meine Schwester, wenn man Euch fragt, und ich begleite Euch, weil …« Er dachte kurz nach. »… Ihr einen Prozess zu führen habt und ich Euch unterstütze.«
    »So ist es ja auch.«
    »Natürlich ist es so.«
    Die Dämmerung war bei dem Ritt durchs Lager weiter fortgeschritten, und nun wurde das letzte Licht von dem Tor geschluckt, das den Eingang zur Stadt bildete. Die Fackeln an den Seitenwänden des Tores erhellten nur notdürftig die Umgebung. Ein Uniformierter trat aus einer Tür, versperrte ihnen mit seiner Lanze den Weg und fragte nach ihrem Begehren, während ein anderer das Tor für die Nacht verschloss. Nach einigem Hin und Her und nachdem eine Münze den Besitzer gewechselt hatte, ließ er sie in die Stadt ein.
    Julius mietete für Sophie in einer Herberge am Fischmarkt gegenüber der Johanniskirche ein Zimmer. Wahrscheinlich bestand er auf diesem überflüssigen Komfort, um ihr deutlich zu machen, dass es jemandem wie ihm nicht in den Sinn käme, sich an einer verheirateten Frau zu vergreifen. Er selbst begnügte sich mit einem Bett in dem allgemeinen Schlafraum. Vielleicht teilte er es sogar mit anderen Gästen, ein Gedanke, der Sophie ein gehörig schlechtes Gewissen bereitete, aber auf ihre Einwände wollte er nicht hören.
    Am nächsten Morgen brach er auf und kehrte mit einem braunen Samtkleid zurück, das bis zum Hals geschlossen war und dessen einziger Reiz in einem breiten, weißen Spitzenkragen bestand. Sie nahm es entgegen, auch die Haube, die er für sie erstanden hatte. Nachdem sie sich gewaschen und wieder angekleidet hatte, zeigte ihr ein Blick in einen Spiegel, dass aus der zerrissenen Räubergespielin wieder eine sittsame junge Frau geworden war. Und doch war es nicht mehr dieselbe Frau wie vor einem Jahr. Nachdenklich musterte Sophie ihr Spiegelbild. Sie war noch dünner geworden, aber das war nicht die einzige Veränderung. In ihre Züge hatte sich etwas Hartes geschlichen. Die Augen blickten erwachsener und wachsamer. Aber weniger furchtsam? Das ließ sich nicht

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