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Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Glaesener
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hatte, und der Offizier war offenbar der gleichen Meinung.
    »Ich habe mich durch die Zeltöffnung gebückt und gesehen, wie sich die Hexe … die Wahrsagerin … mit dem Rücken zu mir nach etwas beugte. Dann erblickte ich auf dem Boden den toten Pater.« Sophie hatte in Wirklichkeit nur sein fettes Bein gesehen, das in einem blauen Strumpf stak und aus dem Stiefel gerutscht war. Und außerdem einen blutigen Arm, der wie bei einem Gekreuzigten vom Körper abgespreizt war. Der Rest war von dem sternenbestickten Umhang der Wahrsagerin bedeckt gewesen. Aber inzwischen hatte man die Leiche ins Freie getragen, und sie wusste, wer in dem Zelt den Tod gefunden hatte.
    »Und dann?«, fragte der Offizier. Die Leute rückten näher heran, und Sophie berichtete, an was sie sich erinnern konnte: Die Wahrsagerin hatte sich aufgerichtet. Ein Hahn flatterte krächzend durch das Zelt. Das Weib in dem Sternenumhang hatte sich mit einer schwungvollen Bewegung zu ihr umgedreht.
    »Und dann?«, fragte der Offizier.
    Sophie starrte auf das blutige Holzscheit, das neben ihrem Schemel im Gras lag. »Von da an weiß ich nichts mehr.«
    »Giulia ist geflohen«, steuerte einer der Männer, ein junger Söldner mit dem herzförmigen Kopf einer Schleiereule, ihrem Bericht bei.
    »Wird nach ihr gesucht?«
    Es erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Jemand sagte laut: »Egal, welchem Gewerbe sie nachgeht: Giulia ist eine anständige Person. Warum sollte sie einen Pater umbringen?« Die Menge, die Sophie umringte, schaute jetzt wesentlich unfreundlicher. Ihr wurde klar, dass sie von Glück sagen konnte, selbst verletzt zu sein. Ihr blutverschmierter Kopf mit der Platzwunde war der Beweis, dass sie es nicht gewesen war, die den armen Pater Ignatius ermordet hatte. Auf sein blutiges Gesicht im Gras war ein Kastanienblatt gefallen. Sie wandte schaudernd den Kopf ab.
    »Was hatte ein Jesuit in Giulias Zelt zu suchen?«, fragte der Offizier streng in die Menge.
    »Dasselbe wie alle andern auch. So fett und heilig kann keiner sein, dass er seinen Kommandeur nicht unter die Röcke in die Schlacht schickt«, höhnte eine blasse Frau, die einen verbeulten Blechtopf mit den Armen umfasste.
    »Halt dein dreckiges Maul. Er wollte die Zukunft wissen. Giulia hat’s mir erzählt. Sie hat nichts als ihre Wissenschaft verkauft.« Der Mann, der das sagte, hatte Tränen in den Augen. Er war schon älter. Vielleicht war er Giulias Vater oder ihr Liebhaber oder Ehemann.
    In diesem Moment schrie jemand hinter dem Zelt auf. Einige Männer rannten um die Büsche. Kurz darauf trugen sie an Armen und Beinen einen zweiten Leichnam vor den Offizier. Es war eine schlanke Frau, die in einem Rock voller Sterne, einer goldgelben Bluse und einem schwarzen Samtmieder steckte. Ihr schwarzes Haar schleifte am Boden. In ihrem Hals klaffte eine Wunde. Der Mann, der bestritten hatte, dass Giulia eine Hure war, brach in Tränen aus, und Julius entrang sich ein tiefer Seufzer.
    »Marx!«, sagte Julius, als sie zwei Stunden später wieder das Stadttor durchschritten. Er nannte nur den Namen, aber natürlich wusste sie, was er meinte. »Ihr habt ebenfalls nach ihm Ausschau gehalten, als wir das Haus verließen. Habt Ihr doch! Aber er ist nicht aufgetaucht. Also: Was bedeutet das?« Als sie schwieg, gab er selbst die Antwort: »Es bedeutet, dass er bereits wusste, wer der Pater war, der sich über Heinrichs Tod gewundert hat. Er kannte den Namen, vielleicht sogar seinen Aufenthaltsort. Ich würde sagen, er ist uns knapp zuvorgekommen.«
    Sie schwieg immer noch.
    »Marx hat geraubt und gemordet, das ist erwiesen. Denkt nur an die Müllersfamilie, die er umgebracht hat. Idealisiert ihn nicht. Wenn er etwas erreichen will, geht er über Leichen. Vielleicht wird man ja so, wenn man im Felde war, aber … Ach, Sophie!« Er trat wütend eine zerbrochene Kiste beiseite, die jemand in der Gasse fortgeworfen hatte. Als sie Tomas’ Haus erreichten, ging er wortlos auf sein Zimmer.
    Es war dunkel im Haus. Die Bewohner waren zu Bett gegangen, und auch Irmgard schnarchte leise in den Kissen. Die Hand, auf die das Mondlicht fiel, umklammerte ein geklöppeltes Spitzentuch. Leise schob Sophie ihre Bettdecke beiseite und stand auf. Ihr Kopf hämmerte immer noch wie wahnsinnig, aber das konnte sie nicht aufhalten. Sie raffte ihre Kleider vom Stuhl, zog sie über und knöpfte und schnürte die Bänder. Dann ging sie auf Strümpfen, um ja kein Geräusch zu verursachen, hinunter in den Salon und von dort in

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