Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
solide. Hast du noch nie darüber nachgedacht … Ich meine, warum baust du nicht auf Sicherheit?«
»Das habe ich getan. In den schrecklichsten neun Monaten meines Lebens.« Sie schlang die Arme um Marx’ Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Lass dich nicht umbringen, du Verrückter. Ich kann nicht leben, wenn du stirbst.«
s sah den ganzen Vormittag so aus, als wollte es schneien. Die grauen Wolken, die über den Himmel zogen, waren prall wie Daunenkissen. Das Land wurde in graues Licht gehüllt, in das sich gelegentlich, wenn die Sonne durch eine Wolkenlücke fiel, rosafarbener Glanz mischte. Eine dünne Schneeschicht lag über Boden und Bäumen.
Zum Glück war es nicht mehr so kalt wie an den Tagen zuvor, denn Sophie meinte sich zu erinnern, dass Mutter sie, als es um Henriette ging, vor der Kälte gewarnt hatte. Kinder waren empfindlich gegen niedrige Temperaturen. Wenn Erwachsene sich noch wohl fühlten, froren sie bereits. Einem der Söhne einer Nachbarin war die Wange angefroren, was zu einer hässlichen Vernarbung geführt hatte.
»Ich werde froh sein, wenn ich endlich wieder daheim bin«, sagte sie zu Julius, der neben ihr ritt.
Er murmelte: »Noch ist es nicht so weit.«
So viel engelhafte Geduld, dachte sie und hatte wie immer, wenn sie mit dem Hauslehrer beisammen war, ein schlechtes Gewissen. Sie nutzte ihn aus. Ihr einziger Trost bestand darin, dass er es wusste und dass es ihm nichts auszumachen schien. Nein, das war billig. Natürlich machte es ihm etwas aus. Aber was sollte sie tun?
Schnee rieselte auf sie herab, als ein großer, schwarzer Vogel sich in die Lüfte schwang. Sophie schaute dem Tier beklommen nach. Ihre Miene heiterte sich erst auf, als sie an einer Wegkreuzung Werner von Reifferscheidt und seine Männer erblickte. Denn das war die Vorsorge, die Julius getroffen hatte: Sie würden sich als Zeugen und Beistand den mächtigsten Nachbarn des jungen Freiherrn an die Seite holen.
Der Graf saß krumm in seinem Sattel. Es hieß, er sei schon an die achtzig, und dafür war er erstaunlich rüstig. Das dünne, weiße Haar klebte fettig an seinem Kopf, seine Augen waren milchig, aber er bewegte sich entschieden. Sophie hatte in Speyer die Einzelheiten über den Streit erfahren, den er mit Marsilius ausfocht. Er hatte es dem Wildenburger nicht nur übelgenommen, als der ohne das Recht auf die Blutgerichtsbarkeit Hexen zum Tode verurteilte. Der große Affront kam, als Werner in eigener Person zum Richtplatz geritten kam und die Hexen losbinden und die Reisighütten, in denen sie verbrannt werden sollten, zerstören ließ, um klarzustellen, wie die Rechtslage war. Er hatte angenommen, dass die Angelegenheit damit erledigt sei. Doch Marsilius hatte unmittelbar nach seinem Abzug die Hütten wieder aufbauen und die Hexen darin hinrichten lassen. Diese Dreistigkeit war es gewesen, die Werner zur Weißglut brachte.
Und so war er gern mit seinen Bewaffneten gekommen, um sich an der Demütigung seines Nachbarn zu weiden. Er verwickelte Julius in ein gut gelauntes Gespräch, sie ritten die Wege hinauf, und bald erblickte Sophie die vertraute Silhouette der Burg. Sie wurde still und blass, als die Brücke hinabgelassen und die Tore vor ihnen bombastisch, als ginge es um einen Handel zwischen Kaisern und Königen, geöffnet wurden. War es doch ein Fehler gewesen, dass sie darauf beharrte, ihr Töchterchen selbst abzuholen? Was, wenn ihre Gegenwart Marsilius zu etwas Unbesonnenem trieb? Sie verscheuchte die späte Reue.
Die Pferdetreppe, die zum Burghof hinaufführte, wurde vom Burggesinde flankiert. Sophie sah Jössele und Theiß, der seine Küchenschürze abgelegt hatte, außerdem Knechte und Mägde und den kleinen Pferdejungen … Eva stand mit gesenktem Kopf vor Dirks Haus und mied ihren Blick. Niemand sagte ein Wort.
Im Hof wartete Marsilius. Neben ihm hatte sich Kaspar aufgebaut, der zu ungeahnten Ehren aufgestiegen zu sein schien. Etwas abseits erblickte Sophie Pater Ambrosius, der, wie sie mit Erleichterung feststellte, sein Abenteuer im Bergwerk offenbar ohne größere Blessuren überstanden hatte und wieder seinen Dienstgeschäften nachging. Sie ignorierte ihn, um ihn nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dirk Wolpmann war da. Und natürlich auch Edith.
Sophies Magen füllte sich mit Glut. Die vergangenen Monate, die an ihr gezerrt und sie bleich und mager gemacht hatten, waren an der Hexe spurlos vorbeigegangen. Ediths Schönheit war makellos, und mit dem
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