Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Kinder. Dort zeigt sich seine ganze Erbärmlichkeit.« Julius schob sie so neben sich, dass die Gestalten aus ihrem Blickfeld gerieten.
»Warum hat man sie gehängt?«
»Es sind Deserteure, Diebe oder Kerle, die betrunken jemanden erschlagen haben. Das ganze Lager würde hier hängen, wenn es Gerechtigkeit gäbe.« Julius trat zu einem Söldner, der sich von den anderen Männern durch ein Lederkoller mit goldenen Knöpfen und seidenen Strümpfen abhob, und fragte ihn nach Pater Ignatius und, als der nicht bekannt war, nach dem Feldscher, denn dort konnte man die meisten bußwilligen Menschen vermuten. Der Mann wies zu einem runden Zelt, das abgelegen an einem kleinen Bach lag. »Aber überlegt, ob Ihr es betreten wollt«, meinte er mit einem starken französischen Akzent. »Wir haben seit einigen Tagen nicht nur den üblichen Dreck, sondern auch Fälle von Bräune.«
Wie ernst diese Warnung zu nehmen war, begriff Sophie, als sie einen Wagen voller Leichen erblickte. Man hatte den Toten die Unterkleider gelassen, aber sie ihrer Wämser und vor allem der kostbaren Stiefel beraubt, so dass die nackten, steifen Beine vom Karren staken. Ein vielleicht fünfjähriger Junge stand verloren neben dem Leichenberg und strich einem der Toten mit der Hand übers Gesicht.
»Ihr wartet hier«, ordnete Julius an. »Geht nicht näher ran. Krankheiten verbreiten sich über die Luft.« Er band sein Tuch vom Hals und hielt es vor die Nase, bevor er in dem Zelt verschwand.
Es gab noch ein zweites Zelt, das abseits des restlichen Lagers aufgeschlagen worden war. Sophie erblickte es, als sie sich fortdrehte, um dem Gestank zu entkommen. Es war im Gegensatz zu den übrigen hellen Zelten dunkelblau eingefärbt und mit seltsamen Bildern bestickt und übte dadurch einen sonderbaren Reiz aus. Die Bewohner hatten es unter den Kronen mehrerer Kastanien aufgebaut. Die letzten Blätter lagen auf der Plane wie gelbe Kröten. Sophie schritt durch das Gras, um sich die eingefärbten Zeichnungen genauer anzusehen.
In welchem Moment wurde ihr unheimlich zumute? Als sie die Katze sah, die plötzlich aus den sich überlappenden Bahnen des Zelteingangs geschossen kam? Oder hörte sie in dem allgemeinen Lärmen des Zeltlagers einen bedrohlichen Laut, ohne ihn bewusst wahrzunehmen? Sie starrte auf die Planen, auf denen Sterne und ein riesiger Komet abgebildet waren. Es musste sich um das Zelt eines Astrologen handeln, denn unter dem Schweif des Kometen befand sich ein Kreis, auf dem Kreaturen wie Schlangen und Skorpione abgebildet waren. Außerdem sah sie ein Wesen, halb Mensch, halb Pferd, bei dem sich der menschliche Oberkörper mit dem Rumpf des Pferdeleibs verband. Daneben waren zwei nackte, einander an den Händen haltende Kinder abgebildet.
Sophie bekreuzigte sich. Vater hatte immer eine entschieden kritische Haltung zur Astrologie eingenommen, und die war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Diese Kunst ist der Wahrsagerei zu ähnlich, und die ist des Teufels, hatte Vater immer behauptet und aus der Schrift zitiert, wo Gott die Wahrsager verfluchte.
Sophie war jetzt nur noch einen Schritt vom Zelt entfernt. Als sie sich umdrehte, sah sie Julius. Er winkte ihr zu, ging aber in die entgegengesetzte Richtung, wohl zu dem Offizier, der ihm bereits vorher Auskunft gegeben hatte. Aus dem Sterndeuterzelt drang ein Laut, ähnlich einem Schnäuzen oder als hätte jemand etwas im Hals. War es Neugierde, die sie bewog, sich zu den Planen zu bücken? Eine Ahnung? Die Hand des Herrn? Oder die seines Widersachers, des Teufels? Sophie schlug den Stoff zurück.
Sie sah einen Schatten, der sich aufrichtete. Sie hörte einen überraschten Ruf. Dann fühlte sie einen grellen Schmerz, und um sie herum wurde es schwarz.
Später, als sie von dem französischen Offizier gefragt wurde, was genau geschehen war, wusste sie kaum etwas zu sagen. Sie saß im Freien auf einem Schemel, eingehüllt in eine schmutzige Decke, und war von Söldnern, stierenden Trossweibern und deren Kindern umgeben. Um ihre Stirn und ihre Schläfe wand sich ein Verband, den der Feldscher ihr angelegt hatte, und sie zitterte am ganzen Körper vor Aufregung und einem wahnsinnigen Kopfschmerz.
Julius drückte ihre Hand. Er hatte schon zweimal gefordert, dass das Verhör in irgendwelchen Räumlichkeiten stattfinden solle, sich aber nicht durchsetzen können. Die Söldner schienen zu glauben, dass sie ein Anrecht auf das Spektakel hatten, nachdem der Überfall in ihrem Lager stattgefunden
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