Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Kind im Arm wirkte sie beinahe mütterlich.
Das Kind. Erst jetzt fiel Sophies Blick auf das Bündel in den Windeln mit dem eingestickten schwarz-goldenen Palandt’schen Wappen. Ihre Tochter. Henriette.
»Wartet«, sagte Julius, aber sie hörte nicht auf ihn, sondern stieg vom Pferd. Während sie sich vor Ungeduld in ihrem Kleidersaum verhedderte, riss sie Edith den Säugling aus den Armen und drückte ihn an sich. Die Kleine war wach. Sie starrte ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an – und begann zu weinen. Bestürzt wiegte Sophie sie und murmelte Zärtlichkeiten. Es war, als wollte ihre Tochter ihr mit Verspätung zeigen, dass sie ihr die Kälte in den ersten Wochen ihres Lebens übelgenommen hatte. Sophie sah, wie Edith überheblich lächelte.
»Gottes Mühlen mahlen langsam, aber am Ende gehen sie über jedes Korn«, rief Werner von Reifferscheidt seinem Rivalen ohne Interesse für das Geplärr zu.
Marsilius bedachte ihn mit einem raschen, zornigen Blick. Dann trat er vor. Schneller, als Sophie reagieren konnte, riss er sie in seine Arme und biss sie in die Lippe. Sein Speichel lief ihr am Kinn entlang. Heftig stieß sie ihn von sich und taumelte zurück. Es war totenstill im Hof.
Julius lenkte sein Pferd blass zu Sophie und streckte die Hände nach dem Säugling aus, damit sie wieder in den Sattel steigen konnte. Henriette schrie mittlerweile aus Leibeskräften. Es war ein grässliches, nervtötendes Geräusch, und Sophie, die Marsilius’ Spucke mit dem Ärmel abgewischt hatte, ertappte sich dabei, dass es ihr zutiefst widerstrebte, das Kind erneut in die Arme zu nehmen. Ihr fiel auf, wie man sie anstarrte. Jeder im Hof schien zu merken, was sie bisher für ihr Geheimnis gehalten hatte: Sie war eine schreckliche Mutter. Sie würde dieses Kind niemals lieben können. Ein Blick ins Gesicht des Säuglings machte ihr auch klar, warum. Mit dem Grübchen im Kinn und den seltsam runden Augen würde Henriette sie ihr Lebtag an Marsilius erinnern. Das Mädchen war in seinem Aussehen komplett nach dem Vater geraten.
Sie hatte gesiegt und trotzdem verloren.
An die folgenden Tage erinnerte sie sich später nur schwach. Julius bestand darauf, dass sie nach Speyer zurückkehrten. Offenbar hielten sich in der Gegend, in der ihre Eltern lebten, Truppen auf. Der Krieg hatte den Westen des Landes erreicht. Und da erschien ihm der Weg mit einer Frau und einem Säugling im Geleit zu gefährlich. Sie hatte nachgeben müssen – es ging ja nicht an, dass jetzt sie es war, die Henriette in Gefahr brachte.
Im Grunde war sie sogar erleichtert gewesen. Julius hatte behauptet, dass ihr Vater ihr vergeben habe, aber sie fand, dass es nicht allzu überzeugend geklungen hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht war Vater wütend auf sie? Er hatte Julius ja nicht einmal einen Brief für sie mitgegeben. Mutter übrigens auch nicht. Was, wenn die beiden sie gar nicht mehr haben wollten? Angespannt kümmerte Sophie sich um ihre Tochter, die schrie, sobald sie die Augen öffnete, und nur in den Armen der Amme, die man für sie mitgenommen hatte, für kurze Momente ruhig wurde.
Als sie in Speyer ankamen, verstärkte Sophie ihre Bemühungen um das Mädchen. Sie wiegte es in den Armen, wie sie es bei Christine gesehen hatte. Sie gab ihm Kosenamen, sie herzte und küsste es. Aber Henriette ließ sich nicht von ihr besänftigen, und am Ende war es Irmgard, die sich der Kleinen annahm.
Tomas’ Schwester erwies sich als ruhige, gemütvolle Kinderfrau. Sobald sie Henriette zu sich holte, wurde das Mädchen zufrieden, als spürte es, dass die wortkarge Frau ihm echte Zuneigung entgegenbrachte. Sophie nahm es resignierend zur Kenntnis. Auch bei ihren Eltern war es schließlich nicht anders gewesen.
Julius bemerkte natürlich, wie sie Henriette nach und nach abschob. Er übte zwar keine direkte Kritik daran, aber er bestand darauf, dass sie sie wenigstens einige Stunden am Tag bei sich hatte. »Ihr habt einen Prozess für dieses Recht geführt«, sagte er einmal – und sie fühlte sich noch schuldiger.
»Es ist ein ungewöhnlich hübsches Kind«, meinte Irmgard, die die Kleine eigenhändig säuberte. Mit der Ankunft des Mädchens hatte sie ihr Schweigen endgültig gebrochen. Sie weigerte sich zwar, über das zu sprechen, was ihr bei dem Überfall geschehen war, aber ansonsten schien sie fast wieder normal. Das Zimmer, das die beiden Frauen jetzt mit dem Kind gemeinsam bewohnten, roch nach dem breiigen Säuglingskot.
»Man
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