Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
sollte sie nicht mehr so eng wickeln. Sie sollte Arme und Beine bewegen können«, gab Sophie die Weisheit ihrer Mutter von sich, um wenigstens ein bisschen Interesse zu zeigen.
»Das ist Unsinn, dann bekommt sie eine krumme Haltung«, widersprach Irmgard. Also wurde Henriette wieder bis zum Hals in die Windeln gebunden. Sophie ließ sie sich reichen. Das Mädchen schaute an ihr vorbei zum Licht einer Kerze, die jetzt, da die Tage kurz und die Nächte lang geworden waren, bereits am Nachmittag entzündet werden musste. Wie schwer sie geworden war! Sophie setzte sich mit ihrem Kind in einen Lehnstuhl und starrte auf das kleine Gesicht. Wieder fiel ihr die Ähnlichkeit mit Marsilius auf, besonders ums Kinn.
Sophies Gedanken irrten zu Marx. Was, wenn er bereits zu ihren Eltern geritten war? Seit seinem Fortgehen waren zwei Wochen vergangen. Was würde er unternehmen, wenn er sie dort nicht fand? Was trieb er überhaupt? Seine Bemerkung zu Conrad war mehr als kryptisch gewesen. Sie zuckte zusammen, als Henriette ein glucksendes Geräusch von sich gab, das eine weitere Plärrattacke ankündigte.
Die Tage verstrichen. Sophie trieb einen Boten auf, den sie zu ihren Eltern schickte mit der Bitte, ihr doch Nachricht zu geben, wie es um sie alle stehe, und der Ankündigung, dass sie bald zu ihnen kommen würde, wenn es den Eltern recht wäre. Natürlich erwähnte sie auch den Ausgang des Prozesses, in dem klargestellt worden war, dass sie nicht zu Marsilius zurückkehren musste, um Henriette zu behalten. Von Irmgard ließ sie sich derweil zeigen, wie man Henriettes Po klopfen und welche Lieder man singen musste, damit das Kind sich beruhigte. Allmählich stellten sich wirklich kleine Erfolge ein. Vor allem aber zählte Sophie die Tage, die Marx nun schon fort war.
An einem kalten Mittag Ende November, als sie das Eingesperrtsein in Tomas’ freundlichem, aber furchtbar langweiligem Haushalt nicht mehr aushielt, nahm sie Henriette, um mit ihr durch die Stadt zu spazieren. Sie sagte niemandem Bescheid, sondern zog sich und das Kind einfach warm an und schlich aus der Haustür. Es tat gut, die kalte Luft auf der Haut zu spüren und sie einzuatmen. Als würde der Kopf durchgepustet.
Ein Fuhrwerk ruckelte die Straße hinab, und sie trat auf die Stufen zurück, um es vorbeizulassen. Als der Karren vorüber war, kam hinter ihm ein kleiner, verlotterter Straßenbengel mit einer roten Schnoddernase zum Vorschein. Er baute sich vor ihr auf und stieß hervor: »Heute nach dem Dunkelwerden im Roten Haus beim Judenhof, soll ich sagen.« Im nächsten Moment war er davongeflitzt.
Sophie lief ihm einige Schritte nach und hielt inne. Das war doch eine Botschaft gewesen. Der Bursche musste schon einige Zeit vor dem Haus auf eine Gelegenheit gewartet haben, sie abzupassen. Kam er von Marx? Oder – ihre Freude schlug sofort in Zweifel um – etwa von Marsilius? War die Nachricht eine Falle? Unentschlossen ging sie die Straße hinab. Henriette war eingeschlafen. Sie bewegte im Traum die Lippen und schien die frische Luft genau wie ihre Mutter zu genießen.
Der Judenhof befand sich nicht weit von Dom und Rathaus. Ihre Füße trugen sie wie von selbst zu einem roten, massiven Bau, den ein Schild als Herberge auswies. Eine breite Tordurchfahrt führte in einen Innenhof, eine Treppe in die Herberge hinein. Geistesabwesend wiegte Sophie ihr Kind, das immer noch schlief. Sollte sie sich in der Gaststube umsehen? Nein, das war ausgeschlossen. Sie brauchte nur die verkommenen Gestalten anzusehen, die sich die Klinke in die Hand gaben, um zu wissen, dass eine ehrbare Frau dort drinnen nichts zu suchen hatte. Also fortgehen und bis zum Abend warten?
Der Entschluss wurde ihr abgenommen. Jemand packte sie am Arm und zog sie durch den Torbogen in den Hof hinein. Marx. Er bugsierte sie hinter einen großen, mit einer gelben Plane bedeckten Reisewagen. Dort küsste er sie vorsichtig über Henriettes Körper hinweg. »Erst traust du dich nicht aus dem Haus – dann kreuzt du hier am helllichten Tage auf.«
»Bist du schon lang in der Stadt?«
Er lachte, ohne eine Antwort zu geben. »Das ist sie also?«
»Henriette.«
Ohne die Scheu, die die meisten Männer vor kleinen Kindern hatten, nahm er ihr Säugling ab und betrachtete ihn. Auch bei ihm weinte Henriette nicht, wie Sophie mit einem Stich im Herzen feststellte.
»Geht es dir gut?«
»Ich bin glücklich«, log sie. Nicht einmal Marx brauchte zu wissen, wie enttäuscht sie über sich selbst
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