Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
hatte.
»Valerie wollte den Kleinen nach dem Vater nennen, Heinrich, aber das konnten wir natürlich nicht dulden«, sagte die Frau. »So ein schlechter Mensch!«
»Er wollte sie heiraten«, wiederholte Julius.
»Verzeiht, Herr, aber Ihr solltet ihn nicht verteidigen. Sie wussten doch beide, dass das ausgeschlossen war. Valerie hatte ja bereits ihr Gelübde abgelegt«, erklärte die Frau brüsk. »Sie konnte gar nicht mehr zurück.«
Schließlich stellte Julius, bang um Conrads willen, seine letzte Frage. »Wie ist Eure Tochter denn ums Leben gekommen?«
älte und Dunkelheit. Und kein Gefühl mehr für die Zeit. Sophie lag unter ihrer klammen Decke und starrte zähneklappernd ins Nichts. Da Dirk sie weiter mit Nahrung versorgte, litt sie weder Hunger noch Durst. Dennoch befand sie sich in einem furchtbaren Zustand. Ihr war, als hätte sich ihr Geist aus dem Körper bewegt. Sie schwebte, während sie gleichzeitig auf dem Fels lag. Vielleicht lag es daran, dass sie oben und unten nicht mehr unterscheiden konnte – vielleicht aber war es auch das Werk der Hexe. Sie versuchte darüber nachzudenken, doch sie fand es unmöglich, sich auf etwas zu konzentrieren. Ihre Gedanken trieben wie Schneeflocken in einem Sturm.
Die Zeit verging.
Sie begann zu singen, aber ihre Stimme klang geisterhaft in dem hohen, röhrenartigen Raum, und sie hörte bald wieder auf. Heilige Mutter Gottes, hilf mir …
Weitere Zeit verging.
Endlich öffnete sich erneut die Falltür. Gott sei gepriesen, es war wieder Dirk, der kam. Dieses Mal trug er einen Korb auf dem Rücken. Nachdem er seine Fackel in dem Eisenring untergebracht hatte, stellte er den Korb vor ihr ab. Er kippte ihn ein bisschen, so dass sie hineinschauen konnte. Mit einem Schrei erkannte sie Henriette.
»Nur für ein kleines Weilchen« schränkte Dirk sofort ein. »Die Hexe ist bis zum Abend fort, deshalb konnt ich’s riskieren.«
Sophie beugte sich vor und hob das kleine Wesen heraus. Wie leicht sie war, im Gegensatz zu Ediths Kind! Dirk hatte sie zum Schutz gegen die Kälte in mehrere Decken gehüllt. Sophie fuhr mit der Hand unter den Stoff und tastete die Fingerchen, den Hals und den Kopf und schließlich das ab, was sie vom Körper fühlen konnte. Das Kind komplett auszuziehen traute sie sich wegen der Kälte nicht. Doch Henriette wirkte nicht mager, und sie sah auch nicht schmutzig aus. Vielleicht hatte Marsilius schließlich doch noch väterliche Gefühle entwickelt, so dass Edith sich nicht traute, seine Tochter zu vernachlässigen.
Sophie hielt ihr Mädchen gegen das Licht der Fackel. Die Farbe der runden Säuglingsaugen hatte gewechselt. Aus dem hellen Blau war ein Braun geworden – sie waren so dunkel geworden wie ihre eigenen. In allem anderen sah sie wie ihr Vater oder ihre Halbschwester oder irgendein anderer Mensch aus, aber die Augen hatte sie von eindeutig von ihrer Mutter geerbt.
»Clara hatte immer nach unseren Jungen gefragt. Bis zuletzt«, meinte Dirk, der auf sie hinabblickte.
»Um Gottes Barmherzigkeit und deiner Frau und deiner armen Kinder willen – warum lässt du uns nicht einfach fort?«
Das Gesicht des Burgvogts verschloss sich. Musste er es denn noch einmal erklären? Auf dem Friedhof, in den gesegneten Gräbern, lagen seine Söhne. Clara Wolpmann war ohne Beichte gestorben und in ungeweihter Erde begraben worden, so dass sie im Höllenfeuer brennen musste. Die Folter, die sie oben in der Kammer erlitten hatte, würde sich für sie also bis ans Ende aller Zeiten fortsetzen. Nur wer erlebt hatte, wie lang ein Tag oder eine Stunde sein konnten, würde die Grausamkeit dieses Geschicks erfassen. Wie konnte sie erwarten, dass er seine Kinder einem ähnlichen Schicksal preisgab? Und das zu verhindern war nur möglich, wenn er es sich nicht mit Edith verdarb.
»Sprich mit Marsilius. Auf dich hört er am ehesten«, bettelte Sophie, als der magere Mann sich zur Leiter wandte. »Er hasst Edith. Überrede ihn, sie zu töten!«
Dirk drehte den Kopf, die Hand auf dem Strick. »Mit Marsilius kann im Moment niemand reden. Er ist krank.«
»Er …? O ja.« Sophie erinnerte sich an die Geschwüre, die er ihr gezeigt hatte. »Marsilius ahnt, dass diese Krankheit von Edith kommt. Vielleicht kann man gerade jetzt in ihn dringen, wo er leidet.«
»Der Herr will niemanden sehen. Ein Medikus ist aus Trier gekommen. Er hat dem Herrn für seine Geschwüre eine Salbe aus Quecksilber zubereitet und ihm Mittel zum Stillen des Schmerzes gegeben. Das
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