Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Beredsamkeit.
»Du bist ein guter Mensch, mein Sohn«, flüsterte er beschwörend, während er sich seinem Begleiter wieder zuwandte. »Kein Heiliger, aber auch nicht schlimmer als die meisten von uns. Das spüre ich. Im Herzen bist du kein Lump, sondern ein Verführter. Dieser Mensch, Marx von Mengersen, besitzt eine Zunge, von der das Gift wie Honig träufelt. Wer könnte ihm widerstehen? Gewiss hat er dich überredet, dir zugesetzt. Schon als er dich zum Söldnertum verführte … Das hat er doch – er hat dich angeworben, nicht wahr?«
Jost nickte. Schön, damit war die Vertrautheit erklärt, die zwischen Marx und dem Mann mit der Halbglatze herrschte.
»Er redete – und du bist ihm gefolgt wie ein Lämmchen.«
»Hmhm.«
»Und doch fühle ich, dass in dir der Wille eines Mannes steckt!« Das klang hübsch, nach Entschiedenheit und Mut. Wollten diese Saukerle nicht alle mutig sein? »Und deshalb glaube ich …« Ambrosius zuckte zusammen, als Jost auflachte.
»Glaub, was du willst, Drossel. Das Einzige, was ich glaub, ist, dass ich dir den Bauch aufschlitze, wenn ich das Gefühl krieg, du planst was Krummes.«
»Gott behüte«, entfuhr es Ambrosius. Er wollte sich enttäuscht abwenden, aber in diesem Moment begann der Überfall.
Der Blick ins Tal war durch frisches, junges Laub eingeschränkt. Trotzdem konnte Ambrosius erkennen, wie Marx und seine Bande auf den Hof zustürmten. Ihre Rösser flogen dahin. Die Banditen mussten einen Brandpfeil abgeschossen haben, denn aus dem Scheunendach schlugen Flammen. Sie machten sich tatsächlich über die unschuldigen Christenmenschen her. »Herr, Allgütiger«, stöhnte er.
»Das kannst du laut sagen! Schau dir das fette Bäuerlein an. Wie im Schlaraffenland: Die Täubchen kommen uns gebraten ins Maul geflogen.« Jost meinte die arme Familie, die durch das Feuer aufgeschreckt ins Freie stürzte – nur um sich einem noch größeren Unglück gegenüberzusehen.
Die späte Stunde, die Marx für seinen Überfall gewählt hatte, ließ die Baumspitzen auf dem westlich gelegenen Berg in rotem Sonnenlicht aufleuchten. Die Scheune brannte im selben Farbton. Ein flammender Bogen zog sich über das Bauerngehöft. Es war ein wahrhaft teuflischer Anblick. Ambrosius spürte, wie er zitterte. Und nun? Würden die Kerle die arme Familie niedermachen? Er war noch niemals – dem Herrn sei’s gedankt – Zeuge einer ihrer Überfälle gewesen. Ihm wurde schlecht, als er an die Sauspieße dachte, die die Mordgesellen den Menschen in die Leiber stoßen würden. Schwach vor Scham, wollte er den Blick abwenden …
Da änderte sich plötzlich die Szene. Woher kamen das Gebrüll und die Schüsse? Verwirrt suchte Ambrosius die schwarzen Wege ab, die durch die Felder voller Keimlinge führten. Es gab ein Wäldchen hinter einem Weiher, aus dem eine Meute Reiter stürmte. Sie schwangen Waffen, einige zielten mit Pistolen. Marx’ Raubgesellen schrien einander Warnrufe zu. Sie saßen immer noch zu Pferde. Der Pfarrer sah sie erschreckt an den Zügeln reißen und sich nach einer Fluchtmöglichkeit umschauen.
Erleichtert sprach er ein Dankgebet. Da habt ihr es, Dreckskerle! Er fühlte sich Gott in diesem Moment sehr nahe. Auf eine Weise, die ihm selbst nicht ganz klar war, schien er am günstigen Verlauf des Geschehens seinen Anteil zu haben. Das Gute erhob sich gegen das Böse, wie die göttliche Ordnung es verlangte. Marx’ Bande befand sich in heilloser Flucht. Die Räuber ritten auf ein großräumiges Waldgebiet zu, das Rettung verhieß. Und ihre Verfolger hatten offenbar zu früh geschossen – sie mussten nachladen und verloren dadurch Zeit.
»Gott, lass sie nicht entkommen«, flüsterte Ambrosius. Als er merkte, dass er laut gesprochen hatte, warf er einen ängstlichen Blick auf Jost. Doch der schien nichts gehört zu haben. Er starrte mit angespanntem Blick ins Tal. Wahrscheinlich zu dem Anführer der angreifenden Truppe. Der Mann, klein wie ein Püppchen, trug ein weinrotes Wams, und wenn man genau hinsah, konnte man ein Wappen auf dem Ärmel ausmachen. Ambrosius brauchte das Wappen nicht, um ihn zu identifizieren: Es war Marsilius von Palandt. Der Herr der Wildenburger Herrschaft, den Marx zum Narren gehalten hatte. Nun war es Marsilius am Ende also doch gelungen, den flüchtigen Mörder zu stellen.
»Nun mach schon. Hau ab«, flüsterte Jost. Marx, dieser waghalsige, todessüchtige Idiot, hatte sich als Einziger gegen die Flucht entschieden und blickte den Angreifern
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