Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
flüsterte sie ihrer Schwester zu und schlug nach den Mücken, die sie bedrängten. Wie kann es inmitten einer solchen Mückenplage hübsch sein?, wollte Sophie fragen, aber ihr fehlte die Kraft, um zu streiten.
Die nächsten beiden Stunden waren sie damit beschäftigt, Insekten aus den Kleidern zu schütteln und gelegentlich den unterwürfigen Gruß eines Bauern oder das Nicken eines Reisenden entgegenzunehmen. Als plötzlich eine Reiterschar den Weg hinaufkam, merkte Mutter auf. Sie beschattete die Augen mit den Händen, stieß einen heiseren Schrei aus und begann aufgeregt, ihre Kleider zu sortieren und Henriettes Deckchen in dem Schlafkorb aufzuschütteln. »Setzt euch gerade, Mädchen!«
Verwirrt gehorchte Sophie. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, so dass sie nicht erkennen konnte, wer auf sie zuhielt. Dann erreichte die Gruppe einige hohe Bäume, und der Mann, der zuvorderst ritt, schälte sich aus dem gleißenden Licht.
Marsilius.
Ihr Ehemann hatte sie ebenfalls erkannt und schien genauso verblüfft zu sein wie sie selbst. Mit gerunzelter Stirn hielt er auf sie zu. Was sollte das? Wie kam er hierher? »Mutter …«
»Sei froh, dass ich etwas unternommen habe!«, zischte Ursula. »Und bitte – reiß dich zusammen. Jetzt gilt es! Ich hoffe, das ist dir klar.« Sie stand auf und heuchelte mit wenig Erfolg Überraschung. Gerade als sie zu einer überströmenden Begrüßung ansetzen wollte, entdeckte sie die einzige Frau, die sich unter den Männern fand und die sich nun aus dem Grüppchen löste und sich demonstrativ an Marsilius’ Seite begab.
Edith.
Mutter hatte die Frau bei ihrem Besuch auf der Wildenburg nicht zu Gesicht bekommen, aber sie wusste natürlich sofort, wen sie vor sich hatte. Die Hure war gekleidet wie eine Königin und ritt stolz auf der Stute, die eigentlich Sophie gehörte. Über ihre Arme fielen Spitzenärmel in mehreren Lagen, und auf ihrem Kopf wippten golden gefärbte Federn.
Ursulas Gesicht färbte sich dunkelrot. Sie beschloss, die Hure zu ignorieren, und stieß mit gepresster Freundlichkeit hervor: »Welch eine Überraschung!« Gemessenen Schrittes ging sie auf das Reitpferd ihres Schwiegersohnes zu. »Marsilius! Ich hatte Euch so früh ja gar nicht erwartet! Erst in ein oder zwei Tagen. Habe ich mich in der Zeit versehen? So sind wir Frauen. Nie ganz bei der Sache. Willkommen, mein Sohn, herzlich willkommen.« Es klang wie schlechtes Theater.
Sophies Augen hafteten auf ihrem Ehemann, während sie mit wachsendem Entsetzen zu begreifen versuchte, was gerade geschah. Sie wusste, dass ihre Eltern Marsilius über ihren Aufenthaltsort informiert hatten. War er gekommen, sie zurückzuholen? Offenbar. Und dieses Zusammentreffen auf der Wiese sollte wohl dem Zweck dienen, die Stimmung aufzulockern und einen Anschein von Normalität zu wecken, oder was auch immer Mutter sich dabei gedacht hatte.
Doch nun war Edith hier. Die Hexe hatte durchgesetzt, dass Marsilius sie mitnahm, was bedeutete, dass ihre Macht über ihn nicht geschwunden, sondern im Gegenteil ins Riesenhafte gewachsen war. Er scheute sich nicht einmal mehr, seine Hure der Schwiegerfamilie zu präsentieren. Und das wiederum hieß, dass sein Zorn auf die Ehefrau maßlos sein musste.
Sophie spürte ihre Knie zittern. Er ist stark und meine Eltern sind schwach, dachte sie. Noch nie war ihr das so bewusst geworden. Ihre Eltern besaßen vielleicht mehr Geld, aber Marsilius war von höherer Geburt, mit einer, wenn auch wenig geliebten, adligen Verwandtschaft und damit einflussreich. Wer würde ihn zur Rechenschaft ziehen, wenn er etwas Schreckliches tat?
Ihr Blick ging zu den Männern, die allesamt bewaffnet waren. Degen, Pistolen und Schnapphahngewehre. Einige schauten fort, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Auch Dirk Wolpmann, der ebenfalls im Trupp war. Marsilius wollte Gewalt anwenden, wenn sie nicht freiwillig mitkäme. Er war ein junger, hitzköpfiger Mann, den man von Kindesbeinen an gedemütigt hatte. Er würde sich nicht bieten lassen, dass seine Ehefrau ihm auf der Nase herumtanzte.
»Setzt Euch doch einfach zu uns in die Kutsche und verkürzt uns den Heimweg. Dann können wir gleich miteinander plaudern«, schlug Mutter mit eiserner Freundlichkeit vor.
»Ich bin gekommen, mein Weib zu holen.«
»Aber selbstverständlich. Es wird ja auch Zeit, dass Sophie mit Eurem Töchterchen heimkehrt, mein lieber Marsilius.« Mutter befahl der Amme, den Säugling zu bringen. Die Frau hob Henriette ihrem Vater
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