Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
hält, sondern als Amme, um sein Kind zu versorgen. Und das Burggesinde würde bestätigen, dass sie es mit großer Hingabe tut. Kerzen …«
»Sie säugt mein Kind?«
»Schwarze Kerzen sind ein schlimmes Zeichen. Aber man müsste sie erst einmal finden, und ich gestehe ehrlich, dass ich die Hexe für zu schlau halte …«
»Sie ist Henriettes Amme?«
Der Geistliche merkte auf. »Wusstet Ihr das nicht? Ich war am Sonntag auf der Burg und habe es dort erfahren. Edith hat offenbar selbst ein Kind zur Welt gebracht, das allerdings verstarb, Gott hab es selig, und …«
»Dieses Kind ist Marsilius’ Bastard. Und es lebt!«
»Nun, jedenfalls hat sie es nicht bei sich. Aber um noch einmal darauf zurückzukommen: Vielleicht ist Edith doch kein so vollkommen verdorbenes Geschöpf, wie Ihr befürchtet, denn sie wiegte Euer Töchterchen zärtlich in den Armen und besänftigte den Vater, den das Säuglingsgebrüll schier wahnsinnig machte, so dass er … Nein, wartet, wartet … Männer sind nicht wie Weiber«, nahm er Marsilius in Schutz, als er Sophies entsetzte Miene sah. »Wir sind das stärkere Geschlecht, aber Evas Töchtern meilenweit unterlegen, wenn es darum geht, Kindergeschrei zu ertragen, der tatsächlich dem Lärm der Hölle am nächsten kommt, wenn Ihr meine bescheidene Ansicht hören wollt. Ohne Zweifel liebt Marsilius sein Kindchen, er weiß nur nicht …«
»Er wollte sie nicht.«
»Bitte?«
»Er wollte Henriette nicht haben. Er hatte felsenfest auf einen Sohn gebaut. Ihr habt ihn nicht gesehen, als man ihm die Kleine in die Arme legte. Er konnte es gar nicht erwarten, sie wieder loszuwerden. Er … er hasst sie.«
»Was für ein schreckliches Wort. Ihr meint, dass er enttäuscht war. Aber er hat sie doch zu sich genommen, oder?«
»Er muss sie meiner Mutter aus den Armen gerissen haben. O Himmel, süße Jungfrau … Er will mich zwingen, zu ihm zurückzukehren. Henriette ist seine Geisel.« Sophie lief zur Tür. Sie brauchte frische Luft, sie konnte kaum noch atmen.
Ambrosius trat mit seinem geduldigen Lächeln neben sie. »Sophie, mein Kind – Ihr seid durcheinander. Ist es nicht das Gewöhnlichste der Welt, dass ein Vater sein Kind bei sich aufwachsen sehen will? Ich rate Euch, auf die Burg zurückzukehren. Tragt Eurem Gatten in einem ruhigen Moment Eure Einwände, was Edith angeht, vor und vertraut auf sein Wohlwollen. Er wird Euch gewiss anhören.«
Sophie lehnte das Gesicht gegen den Türholm und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht hatte Marsilius seine Tochter ja wirklich zu sich genommen, weil er sie bei sich haben wollte. Aber Edith … Wenn sie sich um Henriette kümmerte, dann sicher nicht aus Wohlwollen. Kinder starben. Sollte die Kleine tot in der Wiege liegen, würde kein Hahn danach krähen. So war es eben mit Säuglingen.
Plötzlich sah Sophie wieder die kleinen Fäustchen, die sich gegen ihre Brust drückten, Henriettes Lächeln und die skeptisch gerunzelte Stirn. Und mit einem Mal tat die Erinnerung körperlich weh. Ich habe sie genauso von mir geschoben wie ihr Vater, dachte sie, während sich eine Eisenklammer um ihr Herz legte. Das arme kleine Menschlein. Selbst wenn die Hexe sie bei der Zeugung verflucht hatte – Henriette trug keine Schuld daran. Und dann kam Sophie ein neuer, entsetzlicher Gedanke: Was, wenn es diesen Fluch gar nicht gegeben hatte? Wenn die Geburt nur deshalb so schwer gewesen war, weil sie unter so schrecklichen Umständen stattfand? Mutter hatte Henriette sofort liebgewonnen, und sie hätte doch sicher gemerkt, wenn mit der Kleinen etwas nicht stimmte. Auch Christine hatte sie einfach nur niedlich gefunden. Ich war die Einzige, die sich von ihr abgestoßen fühlte. Sophie drehte Pater Ambrosius ihr fassungsloses Gesicht zu.
Er sagte etwas, aber sie hörte nicht zu. Denn plötzlich sah sie wieder ihr Wachsbild vor sich. Was, wenn Edith auch von Henriette ein Wachsbild formte? Vielleicht schrie die Kleine gerade jetzt in ihrer Wiege, während ihr Bild von Nadelstichen durchbohrt wurde. Auf einmal bekam auch die Szene im Garten ihrer Eltern einen anderen Sinn. Edith hatte nicht mit den anderen Wildenburgern in der Küche gesessen, als Henriette zu brüllen begann. Hatte sie sich irgendwo verkrochen, um das Kind zum Weinen zu bringen? Wollte sie damit verhindern, dass Marsilius es liebgewann?
»Kehrt auf die Burg zurück«, hörte sie Ambrosius’ schmeichelnde Stimme. »Seid ein braves Lämmlein. Um es mit den Worten des
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