Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Eltern?
Niedergeschlagen beobachtete Sophie einen Jungen, der mit einem Steckenpferd spielte, und dachte an die Zahlen, mit denen ihr Vater beziffert hatte, wie viele Menschen es das Leben kosten könnte, wenn er sie gegen den Willen ihres Ehemanns bei sich aufnahm. Nicht dass ihr noch eine davon im Kopf gewesen wäre. Aber dass das Unglück, das sie über ihre Heimat bringen würde, sich in Zahlen ausdrücken ließ, machte es für sie grauenhaft und real.
Sie wusste, dass ihr Vater in seiner Einschätzung von Marsilius recht hatte. Einen Moment sah sie ihren Mann wieder aus dem Hexenturm kommen, den blutigen Gesichtsabdruck seines Gefangenen auf dem Hemd. Ja, Vater hatte richtig entschieden. Er war für ihre Mutter, ihre Schwestern und die Menschen, die ihm dienten, verantwortlich. Hoffentlich war das Unglück, das er befürchtete, nicht schon über Breitenbenden hereingebrochen.
Niedergeschlagen raffte sie sich auf und kletterte in den Sattel zurück. Sie würde auf keinen Fall nach Hause zurückkehren, so viel stand also fest. Wenn aber weder Dortmund noch ihr Elternhaus in Frage kamen, musste sie trotz ihrer Angst zur Wildenburg zurück. Denn gleich, wie man es drehte und wendete: Sie gehörte zu dem Mann, den sie geheiratet hatte. Und sie hatte als Herrin der Burg ja auch gewisse Rechte. Da sie nichts verbrochen hatte, außer ihre Eltern zu besuchen, konnte Marsilius ihr eigentlich nichts Schlimmeres antun, als sie zu verprügeln. Kein Mensch brachte ungestraft seine Ehefrau um. Darauf musste sie sich verlassen. Und vor Edith musste sie sich eben in Acht nehmen.
Sophie ritt zwei oder drei Meilen. Wie fremd hier alles war! Ihr ging auf, dass sie noch nie allein unterwegs gewesen war. Sie hatte Angst vor den Männern, die ihr entgegenkamen. Die schmucken Häuser und die abgeernteten Felder bewiesen, dass der Krieg diesen Teil des Landes bisher verschont hatte, vermutlich weil er abseits der großen Wasserwege lag. Trotzdem konnten sich Söldner hierher verirren. Unauffällig schloss sie sich einer Familie mit einem Karren voller Kohlköpfe an, die aber leider im nächsten Dorf bereits zu Hause war.
Wieder tat sich vor ihr ein Dorfanger auf. Ihr Magen knurrte. Gut, also … Sie verdrängte die Mutlosigkeit, ritt noch ein Stück weiter, entdeckte eine Wiese mit einer Rinderherde und band Gotteswind an ein Gebüsch. Es war kein Hirte oder sonst ein Mensch bei dem Vieh zu sehen. Rasch huschte sie zu einer der Kühe und begann, sie in einen zerbeulten Zinnbecher, den ihr die Frau aus Floisdorf geschenkt hatte, zu melken. Wenn sie nur niemand bei dem Diebstahl überraschte! Aber sie blieb ungesehen, und als sie zu ihrem Pferd zurückkehrte, fühlte sie sich etwas besser.
Eine Gruppe junger Männer in Wanderkleidern zog vorbei, Studenten vielleicht oder Handwerksgesellen auf der Wanderschaft. Sie warfen ihr anzügliche Blicke zu, und als einer von ihnen, ein Kerl mit so vielen Pickeln, dass er wie ein Fliegenpilz aussah, ihr eine Kusshand zuwarf und ein anderer begehrlich ihr Pferd betrachtete, machte sie, dass sie weiterkam. Ich muss zur Wildenburg, dachte sie, als die Männer hinter einer Biegung verschwunden waren. Ich muss dorthin. Ich habe gar keine andere Wahl.
Aber je mehr sie sich ihrem ehemaligen Zuhause näherte, desto gründlicher verließ sie der Mut. Das Bild des blutigen Gesichtsabdrucks auf Marsilius’ Hemd war ihr ständig vor Augen. Ihr Mann hatte bereits in Breitenbenden getobt. Durch ihre Flucht musste sich seine Wut ins Unermessliche gesteigert haben. Sicher war es Edith ein Vergnügen gewesen, sie zusätzlich zu schüren. Als Sophie den ersten bekannten Weg erreichte, war ihr schlecht vor Angst.
Sie blickte an ihrem Kleid herab, dessen offener Saum um ihre Knöchel schlenkerte, und fuhr mit den Fingern über ihr schmutziges Gesicht. Ihre Kopfhaut juckte, ihr Haar klebte vor Fett. Gut, sie würde Marsilius gegenübertreten müssen – aber nicht in diesem Zustand. Denn dann hätte sie gleich verloren. Sie musste sich mit größtmöglicher Würde präsentieren, um ihn daran zu erinnern, dass sie kein Nichts war, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte. Und daher war es notwendig, dass sie sich reinigte und ihr Kleid flickte.
Ihr Blick ging ins Tal hinab, das sich an die Hänge schmiegte. Wiesen und Stoppelfelder bildeten ein unregelmäßiges Schachbrett, über das sich ein breiter Streifen Sonne gelegt hatte. Oberhalb des Tals lag das Dörfchen Hecken. Ob sie dort jemanden um Hilfe
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