Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
hätte es beinahe nicht mehr geglaubt«, entfuhr
es dem Mann. Sofort bekam Lorenz einen Becher an die Lippen gedrückt.
»Hier, trinkt. Das wird Euch guttun.«
Sein Körper wollte die Flüssigkeit nicht in sich lassen, doch der harte
Griff des Mannes an Lorenz’ Hinterkopf ließ keine andere Möglichkeit zu.
Schwer atmend konnte er sich schließlich auf die Ellenbogen stützen.
»Was ist das?«, keuchte Lorenz, als er den Becher endlich geleert hatte.
Jetzt wandte sich ihm die Frau zu. »Wasser gemischt
mit verschiedenen Kräutern, damit Ihr schnell zu Kräften kommt.«
Erst langsam verschärfte sich sein Blick und das Schwindelgefühl ließ
nach. Lorenz musste die Lider mehrmals schließen und öffnen, um das Gesicht der
Frau zu erkennen. Sie war klein, beinahe hager und hatte dickes Haar, das zu einem
Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie trug die einfache Kleidung einer Bauernfrau,
doch um ihren Hals baumelte ein glitzerndes Kreuz, das wertvoll aussah. Aus kleinen
Augen blickte sie ihn an.
»Ihr habt doch kein Problem mit der Kunst der Kräuterheilkunde, oder?«
Hätte es nicht so wehgetan, hätte er bei dieser Frage beinahe gelacht.
Sein Blick fiel auf den Mann, der ihn argwöhnisch beobachtete. Auch er war von kleiner
Statur und sein dicker Vollbart reichte bis zu seiner Brust. Ein Landstreicher,
war der erste Gedanke, der Lorenz durch den Kopf schoss. Doch seine wachen, aufmerksamen
Augen zeugten von Klugheit und Wissbegierde, und auch er trug dieses verzierte Kreuz
um seinen Hals.
»Wo bin ich?«, stöhnte Lorenz, nachdem er davon überzeugt war, dass
dies keine Franzosen waren.
»Ihr seid im neutralen Crefeld. In der Abtei
der Dionysiuskirche«, sagte die Frau. »Ihr wart bewusstlos. Woran könnt Ihr Euch
erinnern?«
Lorenz überlegte lange. Als ob sein Verstand die dunklen Erinnerungen
der Vergangenheit tief in seiner Seele begraben wollte, kamen die Gedanken nur bruchstückhaft
zutage.
»Es war Krieg«, flüsterte er schließlich, den Blick auf das Laken über
dem Heu gerichtet. Ȇberall waren Soldaten, und es war laut. Sie schrien panisch
durcheinander. Alle hatten Angst und brüllten.« Es schmerzte ihn, als er sich die
Gedanken in Erinnerung rief. »Es war so laut, so unendlich laut.«
Als wolle er mit der Geste seinen Worten Nachdruck verleihen, fasste
er sich an die Ohren. Unter Schmerzen richtete er sich auf. Sofort wurde er vom
einfallenden Licht geblendet, das von den Fenstern direkt in sein Gesicht fiel.
Erst als er seine Augen bedeckte, sah er sie.
Es mussten Dutzende von Soldaten sein, die regungslos in diesem langen,
lichtdurchfluteten Gebäude lagen. Beinahe der komplette Platz war genutzt worden.
Lorenz erkannte die Uniformen der kaiserlichen, aber auch der französischen und
schwedischen Armee. Arm an Arm lagen die Männer hier, nur zusammengehalten von Binden
und Verbänden. Einigen fehlten Gliedmaßen, Augen, Ohren, manchen das ganze Gesicht.
Ihm stieg ein Geruch in die Nase, wie er bestialischer nicht hätte sein können.
Sofort schnellte seine Hand zum Mund.
»Sie werden einfach liegen gelassen«, sagte der Mann, der Lorenz’ Blick
gefolgt war. »Nach so einer Schlacht bleibt den Heeren keine Zeit mehr, sie zu bergen
und zu pflegen. Einige leicht Verwundete werden mitgenommen, doch die, die am Boden
liegen und sich nicht mehr rühren, um die kümmert sich keiner.«
Ein Schauer fuhr über Lorenz’ Rücken. Ungläubig blickte er in das Gesicht
der Frau.
»Es waren mal viel mehr«, flüsterte sie. »Doch
wenn sie nicht stark genug sind und zumindest ab und zu bei Bewusstsein, dann sterben
sie langsam und schmerzvoll.«
Der Ort schien sich zu drehen. Unmerklich fasste sich Lorenz an seinen
Kopf. Er befühlte einen dicken Verband, der Druck auf seine Stirn ausübte. Sofort
kamen die Schmerzen wieder, panisch versuchte er aufzustehen, doch seine Beine versagten
ihm den Dienst. Nur mit Mühe konnte ihn der kleine Mann auffangen und auf das Bett
setzen. Sofort reichte ihm die Frau eine weitere Tasse mit dem ekelhaften Gebräu.
»Wie lange war ich bewusstlos?«, wollte Lorenz wissen, nachdem sie
ihn wieder hingelegt hatten.
Bedächtig fiel der Blick des Mannes auf den Boden. »Nun, das können
wir nicht sagen. Aber heute schreiben wir den siebten Februar.«
Erschöpft atmete Lorenz aus. Seine Gedanken kreisten. Nur langsam kamen
die Erinnerungen zurück. Wann war er mit Maximilian losmarschiert? Es musste über
zwei Wochen her gewesen sein.
Maximilian!
Die Erkenntnis
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