Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
traf ihn wie ein Schlag.
»Max! Wo ist mein Bruder! Wo sind meine Freunde?«
Ein weiteres Mal musste der Mann ihn bestimmt auf das Laken im weichen
Heu zurückdrücken.
»Ich weiß nicht, wo Euer Bruder ist.«
Sein Geist schien ihm die Schmerzen seines Körpers
für einen Moment vergessen zu lassen. Wild umherschlagend stieß er den Mann weg
und richtete sich auf. Waren seine Beine vor einigen Tagen noch kräftig und muskulös
gewesen, schienen sie heute nicht mal mehr sein eigenes Gewicht tragen zu wollen.
Trotzdem schleppte er sich voran, schritt schnell die Reihen der Männer ab und blickte
hoffnungsvoll in jedes Gesicht. Dort, wo er keins erkennen konnte, versuchte er
Ähnlichkeiten mit seinem Bruder zu finden. Doch keine Statur war der von seinem
Bruder oder seinen Freunden auch nur ansatzweise gleich. Als er den Verband vom
Gesicht des letzten Mannes entfernt hatte, durchzog ihn ein trauriger Gedanke. Langsam,
nur ganz langsam, drehte er den Kopf zu den beiden.
»Wie viele Männer habt Ihr schon beerdigt?« Seine Stimme war brüchig
und zitterte bei jedem Wort.
»Sehr viele«, sagte die Frau leise.
Stille senkte sich über die Abtei herab. Nur das
zeitweilige Knistern des kleinen Ofens unterbrach die Stille.
Die Frau erkannte die schwindende Hoffnung in Lorenz’ Blick und trat
einige Ellen auf ihn zu. »Vielleicht haben sie überlebt, vielleicht konnten sie,
wie einige Teile der Kaiserlichen Armee, flüchten.«
»Flüchten!«, schrie Lorenz. »Lamboy hat die Schlacht verloren?«
Lorenz spürte, wie seine Augen feucht wurden, gebückt und schwer atmend
musste er sich abstützen. Langsam schritt der Mann auf ihn zu. Die Hand, die er
ruhig auf seine Schulter legte, fühlte sich warm an und spendete ihm zumindest für
einige Momente Trost.
»Es war eine vernichtende Schlacht, mit vielen Toten auf beiden Seiten.
Doch am Ende waren Marschall Guébriants Truppen siegreich. Wir haben verloren.«
»Wir haben verloren«, hauchte Lorenz.
Einige Sekunden blieb sein Blick auf einem Soldaten der französischen
Armee haften. Er war schwer gezeichnet von der Schlacht. An einigen Wunden hatte
sich Eiter gebildet, der sich mit Blut zu vermischen schien.
»Die Stadt! Kempen! Wisst Ihr irgendetwas über
Kempen?«, schoss es aus Lorenz heraus, während er dem Mann entgegenfiel und ihn
am Kragen packte. »So sagt doch bitte!«
Aus dem Gesicht des Mannes sprach Verständnis, seine Augen waren gütig
und doch wissend.
»Es sind keine Nachrichten bis hierhin gedrungen. Man hört nur von
den umliegenden Dörfern, dass die Hessen sie geplündert haben.«
»Hessen?«, wiederholte Lorenz.
»Ja, sie nehmen sich von einer Gemeinde, was sie kriegen können. Geld,
Güter, Vieh und manchmal …«, der Mann stockte, sichtlich schwer verließen die Worte
seine Lippen, »… und manchmal sogar das Leben der Menschen.«
Innerhalb von Sekunden wandelte sich Hoffnung in wilde Raserei.
»Antonella.«
Als ob ihn der Zorn persönlich leiten würde, stürzte er dem Ausgang
der Abtei entgegen. Seine Schritte waren unsicher, wirkten hölzern. Doch auch wenn
er sich an der Mauer abstützen musste, um sich auf den Beinen zu halten, war sein
Blick nur auf das Licht gerichtet, das strahlend durch die Tür hereinfiel.
»Wartet! Ihr seid noch viel zu schwach, um hinauszugehen.
Bitte, so wartet doch!«, schrie ihm die Frau hinterher.
»Ihr werdet sterben, wenn Ihr Euch nicht ausruht, Junge! Ihr findet
nur den Tod!«, grollte der Mann.
Als er diese Worte vernahm, blieb Lorenz wie angewurzelt in der Tür
stehen. Um nicht zu stürzen, musste er sich am Rahmen festkrallen. Er starrte noch
immer auf den hellen Lichtschein, als er voller Überzeugung sagte: »Ich danke Euch
von Herzen für das, was Ihr für mich getan habt. Doch manchmal gibt es Schlimmeres
für einen Menschen, als zu sterben.«
Lorenz hatte damit gerechnet, dass die Bürger von Crefeld aufblicken
würden, dass sie sich verwundert ihre Augen rieben, sich vielleicht sogar angewidert
wegdrehen würden.
Doch es geschah nichts.
Zu viele Verwundete und Krüppel waren schon an
der Stadt vorbeigezogen. Zu normal war der Wahnsinn des Krieges bereits geworden.
Die Menschen waren viel zu sehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt. Sie beachteten
ihn nicht einmal, als er mehrmals das Gleichgewicht verlor und auf dem harten Kopfsteinpflaster
des Ortes aufschlug. Hell brannte die Sonne in seinem Gesicht, und immer, wenn er
die Augen schloss, schienen Hunderte zuckender Punkte ihn
Weitere Kostenlose Bücher