Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
in den Wahn treiben zu
wollen. Von der Kühle des Winters war im hellen Schein der Sonne nichts mehr zu
spüren. Sein Geist konnte keinen Gedanken festhalten, alles schien flüchtig, schien
zu kreisen. Er sah den Schnee, der hier und dort noch weiß auf den Dächern ruhte
oder bereits mit Schlamm vermischt braun am Rande der Gasse lag. Doch die Stadt
schien zu lodern, zu verbrennen. Kalter Schweiß sammelte sich in seinem Nacken,
als er die ersten unsicheren Schritte in Richtung des Ortsausgangs machte. Oder
bildete er sich diese Hitze lediglich ein? Bereits nach wenigen Ellen schmerzte
sein Körper bitterlich. Zu lange hatte sein Leib auf diesem Laken im weichen Heu
gelegen, zu lange waren seine Beine, ja alles an ihm, nicht mehr genutzt worden,
als dass sie ihn ohne Probleme hätten tragen können. Jeder Schritt war eine Aufgabe,
und bei jeder Bewegung musste er sich erneut verbieten, zu scheitern.
Nur allmählich nahm die Anzahl der Häuser und Hütten
ab und sein Blick fiel auf die Weiten der Heide mit ihren vereinzelten Sträuchern.
Er erkannte die Erhebung, auf der die Artillerie gestanden hatte, und die Stelle,
an der die feindliche Armee durchgebrochen war. Tiefe Furchen und gewaltige Löcher
schmiegten sich an die kleinen Erhebungen, nur sie erinnerten noch an die Schlacht,
die vor nicht allzu vielen Tagen hier getobt hatte. Doch ansonsten? Wäre Lorenz
nicht Teil dieses Wahnsinns gewesen, wäre er ein Unbeteiligter, der nur zufällig
hier vorbeigegangen wäre, hätte er die stummen Zeugen nicht einmal bemerkt. Die
Bäume und Sträucher bogen sich im Wind, wie sie es an jedem anderen Tag getan hätten,
und die Felder waren frei von Kanonen und Leichen, von Uniformen und Waffen, als
wären an diesem Ort keine Heere aufeinandergetroffen. Als hätten sich keine Menschen
bis zum Tode bekämpft und als wäre hier nie das scheußliche Lied des Krieges mit
all seinen Schreien und Donnergrollen herübergeweht. Der Anblick der Landwehr weckte
die schmerzlichen Erinnerungen. Die Erinnerungen an seine Familie, an Antonella,
an seine Freunde und an seinen Bruder. Lorenz war sich sicher, dass er ohne die
Hilfe seines Bruders die Schlacht nicht überlebt hätte. Noch einmal ließ er den
Blick auf die Stelle schweifen, an der sie sich versammelt hatten, an der sie auf
den Feind gewartet hatten und an der Maximilian ihn mit harter Hand in der Reihe
gehalten hatte. Leise schickte er ein Gebet zum Himmel. Dann beschleunigte er seinen
Schritt und verbat sich alle Gedanken an den Schmerz, der in ihm loderte.
Immer wieder musste er eine Pause machen, um zu Atem zu kommen, und
sich abstützen. War er den Hinweg noch schnell und zügig marschiert, so kam ihm
der Rückweg in seine Heimat unaufhörlich lang vor. Zoll wurden zu Ellen, Ellen wurden
zu Meilen und Meilen zu einer Unendlichkeit. Selbst der Tag schien sich gegen ihn
verschworen zu haben und machte bereits früh Platz für die Dunkelheit der Nacht.
Nur schwerlich konnte Lorenz den Weg finden, der ihn nach Hause bringen sollte.
Immer noch drehte sich die Welt um ihn herum. Lorenz wunderte sich, dass er keine
Händler traf, keine Spielleute und Streicher. Die bittere Erkenntnis traf ihn wie
ein Schlag und er beschleunigte seinen schlurfenden Schritt erneut. Kempen wurde
belagert.
Den Blick auf den schlammigen Boden gerichtet,
erkannte er einzelne Stämme, die immer dichter wurden. Erst als er seinen Kopf hob,
brachte ihm der Anblick Gewissheit. Er hatte das Wäldchen vor der Stadt erreicht.
Endlich. Hier hatten Antonella und er vor nicht allzu vielen Tagen den vielleicht
glücklichsten Abend ihres Lebens verbringen dürfen. Während er sich weiter den Pfad
entlangschleppte, suchten seine Augen den Wegesrand ab. Nur mit Mühe konnte er in
der Dunkelheit etwas erkennen. Zu verschwommen war sein Blick, zu pochend der Schmerz
in seinem Kopf, zu kraftlos war sein Körper. Er konnte nicht mehr bestimmen, ob
seine Augen geschlossen waren, die Lichter schienen immerzu vor seinem Gesicht zu
zucken. Alles um ihn herum flackerte und schimmerte. Selbst der Boden strahlte ihm
leicht entgegen. War dies Einbildung oder Wahn? Mit letzter Kraft verschärfte er
seinen Blick. Es war nicht der Boden, der leuchtete, es war Silberkraut, das vom
Mond angeschienen wurde. Antonella. Er musste nun ganz nah an ihrer Hütte sein.
Dort, wo der einsame Baum im Wasser thronte und dort, wo die Stille des Mondes über
die Geräusche wachte. Einige Ellen schritt er auf den Weiher zu, dann stoppte
Weitere Kostenlose Bücher