Die Hexen - Roman
seien sie, Lucian und das weiße Pferd der Mittelpunkt der Welt. Dann drehte sie sich um und lief zu dem großen Zelt.
Scharfer Kräuterduft empfing sie, als sie ins Halbdunkel trat. Nevere beugte sich über die Liege, auf die man den jungen Ritter gebettet hatte. »Na endlich«, empfing sie Ravenna ungeduldig. »Wo warst du so lange?«
Ravenna konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ängstlich warf sie einen Blick auf Ramon, der reglos dalag und die Augen geschlossen hatte. »Ist er tot?«
»Nein. Ich habe ihn in einen Schlaf versetzt, in dem er keine Schmerzen mehr verspürt. Jetzt werde ich den Splitter herausziehen. Du musst seinen Kopf festhalten.«
Ravenna tat, was die Magierin ihr befahl. Neveres Handgriffe erfolgten sachlich und geübt, als habe sie keine Vorstellung von den Qualen, die der Verletzte erdulden musste. Von jeder ihrer Berührungen blieb ein wenig Goldstaub auf Ramons Gesicht und Körper haften, bis der junge Mann in ein mattes Leuchten getaucht war. »Es ist die Gabe«, erklärte Nevere knapp, als sie Ravennas staunenden Blick bemerkte. »Die Gabe und ein wenig von diesem Mittel.« Sie hob eine bauchige Flasche mit schlankem Hals, die sich in ihrer Tasche befunden hatte. Als Nevere sie schüttelte, wirbelte Goldstaub in einer klaren Flüssigkeit. Auf dem Boden der Flasche lag Neveres Siegel. Es zeigte eine Ähre. Der goldene Staub hatte sich in jeder Ritze festgesetzt, so dass der ganze Ring zu leuchten schien.
»Einmal im Jahr, wenn das Korn geschnitten wird, begebe ich mich auf Wanderschaft«, erklärte sie leise. Sie berührte den Stern auf ihrer Stirn. »Ein Traum hat mir gezeigt, wie ich meine Heilgabe finde: In einer Schlucht sammelt sich ein Teil des Stroms. Es ist eine Art magischer Niederschlag, wie Staub von einem weit entfernten Stern. Ich nehme immer nur wenig mit, denn diese Substanz ist kostbar. Kennt man ein solches Heilmittel in deiner Zeit?«
Ravenna schüttelte den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Ramons Brust langsam hob und senkte. »Ich weiß nicht, ob er überlebt oder wieder ganz gesund wird«, beantwortete Nevere ihre unausgesprochene Frage. »Niemand weiß so etwas, denn alleine die Zeit heilt die Wunden.« Eilig packte sie ihre Sachen wieder in die Tasche. Als sie die Flasche in die Hand nahm, zögerte sie.
»Esmee hat mir erzählt, dass du auch eine Wunde mit dir herumträgst«, sagte sie. »Eine unsichtbare Wunde, die deshalb jedoch nicht weniger schmerzhaft ist.«
Ravenna spürte, wie sie blass wurde. Sie wich zurück bis an die Zeltwand. Niemals würde sie den stolzen Zauberinnen vom Odilienberg von der Nacht in ihrer Küche erzählen, von der Erniedrigung und dem Entsetzen, die sie seit dem Übergriff nicht hatte abwaschen können.
»Hab keine Angst«, beruhigte Nevere sie. »Ich will nicht hinter dein Geheimnis dringen. Du musst nur eines verstehen …« Langsam trat sie näher. Ihre Hände verströmten den Geruch der Kräutersalbe, mit der sie Ramons Wunde behandelt hatte, und von ihrem Körper ging eine merkwürdige Kühle aus. Wie von einem Regenguss nach langer Hitze, ging es Ravenna durch den Kopf. Dann fiel ihr ein, wie die anderen Mädchen ihr erzählt hatten, dass Nevere eine große Wetterzauberin war.
»Sag mir, ob du dich im Kreis der Geweihten noch zurechtfindest«, wollte die Magierin wissen.
»Aveline führte mich in das Geheimnis von Imbolg ein«, rechnete Ravenna ihr an den Fingern vor. »Dann folgten Josce und das Siegel des Frühlings. Esmee machte mich zur Maikönigin und du …« Ruckartig hob sie den Kopf. »Wir haben das Sonnwendfeuer ausgelassen. Mittsommer – wenn die Nacht am kürzesten ist und die Tage heiß und sonnig.«
Nevere nickte zufrieden. »Du lernst schnell«, stellte sie fest. »Das ist gut, denn leider sind unsere Feinde verschlagen und grausam. Die Mittsommernacht gehörte Melisende. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie ihr Siegel in den großen Strom tauchen und die Magie zur Erde lenken. Darüber kann dir keine von uns etwas beibringen. Du musst selbst herausfinden, was in dieser Nacht zu tun ist.«
Ravenna schluckte. »Aber …«, begann sie, doch mit einer barschen Handbewegung schnitt Nevere ihr das Wort ab. »Hör mir gut zu! Bis zur Sommersonnwende sind noch wenige Wochen Zeit. Bis dahin werden wir dich alles lehren, was wir wissen. Lucian wird dich auf der Suche nach dem verschwundenen Siegel begleiten. Deshalb ist es wichtig, dass er den heutigen Tag unbeschadet übersteht. Ihr
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