Die Hexengabe: Roman (German Edition)
und scharf gefeilten Nagel ihres rechten Daumens die Mittelrippe. Auf das so vorbereitete Blatt strich sie verschiedene nach Nelken und Kardamom duftende Pulver, gab schließlich eine weiße Paste darauf und setzte in die Mitte von allem eine Nuss. Das so entstandene Päckchen hatte sich Usha in den Mund geschoben und schon bald etwas Rotes in eine für die armselige Hütte viel zu prächtige Schale aus Silber ausgespuckt.
Rosa konnte nicht sagen, wie lange sie hier in dieser Hütte schon lag. Tage, Stunden oder Monate?
Die Frau beugte sich über Rosa, und obwohl Rosa vorgab, weiter zu schlafen, rief Usha nach Nandi, der auch sofort hereinkam.
Nandi näherte sich Rosa mit gebeugtem Rücken.
»Bist du gewacht?«, fragte er.
»Ja.« Rosa schlug die Augen auf. »Und ich muss weiter, ich muss Dorothea finden. Verstehst du, das ist meine Aufgabe!«
Nandi nickte. »Du Geschenk von der Göttin mit Gnade, hat sie dir ihren Finger der Weisheit geschenkt, und überlebst du den Biss von Kettenviper. Niemand das überlebt aus unserem Dorf. Usha sagt, du heiliges Geschenk der Göttin: eine Nagini, eine Schlangenprinzessin.«
Rosa war sich nicht sicher, ob sie das alles richtig verstanden hatte. Eine Heilige? Ein Geschenk der Götter? Ihr Hexenfinger?
»Werden Heilige denn von Schlangen gebissen?«, fragte Rosa und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Das nur weiß die Göttin. Aber du noch am Leben und gehabt hast Vision von Garuda und Kaliya.«
»Garuda und Kaliya?«
»Garuda ist Sonnenvogel, die Verkörperung von Vishnu, und Kaliya ist der böse Schlangenkönig, gegen den Krishna als Siebenjähriger gekämpft hat.«
Rosa erinnerte sich daran, dass sie tatsächlich an den Adler gedacht hatte, dann kroch eine Gänsehaut über ihren nackten Rücken. Sie hatte auch an dieses merkwürdige Kobrapaar gedacht, aber das waren doch nur Fieberhalluzinationen gewesen, nichts sonst. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Nandi nickte, als ob sie doch etwas gesagt hätte, und fuhr fort: »Dein Finger ist das Zeichen. Usha sagt, ist es unsere Aufgabe, dir bei allem zu helfen.«
»Ist Usha deine Mutter?«
Nandi lachte.
»Nein, sind meine Eltern lange tot. Die Jesuiten in Goa haben mich großgezogen.«
»Deshalb sprichst du meine Sprache?«
Nandi nickte.
»Und wer ist dann Usha?«
»Usha ist Heilerin, schon viele Hundert Jahre, und kann sie das Böse aus jedem herausziehen, der es will. Und spricht sie mit den Göttern.«
Rosa betrachtete die alte Frau, die mit gekreuzten Beinen vor ihr saß und lächelte.
Mehrere Hundert Jahre, dachte Rosa, das könnte beinahe wahr sein. Sie wünschte, Usha wäre bei den Hugenotten gewesen und hätte sich Luis’ angenommen.
Usha reichte ihr eines der Päckchen, die sie zubereitet hatte.
Mit Schaudern dachte Rosa daran, dass Usha davon rot ausgespuckt hatte. »Was ist das?«
»Wir es nennen Supari. Es ist eine Betelnuss in einem Paan, einem Betelblatt.« Nandi zögerte einen Moment.
»Und du, wirst du auch davon essen?«, fragte Rosa.
Nandi schüttelte den Kopf. »Es ist eine Ehre, Betel geschenkt zu bekommen, ich bin dieser Ehre nicht wert.«
Rosa dankte Usha ehrerbietig, griff nach einem der Päckchen und schob es in ihren Mund.
»Man kaut nicht wirklich darauf herum, man schiebt es in die Backe und saugt daran.«
Kaum hatte Rosa es in den Mund gesteckt, stieg ihr Speichelfluss, und sie musste sofort ausspucken. Es schmeckte nach Gewürzen und frischem Pfeffer. Ungewöhnlich, aber nicht schlecht.
Usha und Nandi betrachteten sie neugierig. Rosa versuchte begeistert auszusehen und spuckte ausgiebig in den Napf.
Ihr Herz klopfte schneller, in ihrem Körper begann es überall zu kribbeln, und sie wäre am liebsten aufgesprungen und herumgelaufen.
Sie spürte, wie sie immer zuversichtlicher wurde, es doch noch zu schaffen, ihren Neffen nach Nürnberg zurückzubringen.
Erst jetzt bemerkte Rosa, dass sie nur einen leichten Rock über ihrer Leibwäsche trug. Sie tastete nach dem eingenähten Dolch – alles war an seinem Platz.
»Nandi«, nuschelte sie, »wasch isch mit den Menschen passiert, die in dem Haus gewohnt haben, dort, wo mich die Schlange gebissen hat? Hat meine Schwester wirklich da gelebt?«
Seine Antwort war reichlich konfus, aber nachdem Rosa mehrfach ungläubig nachgefragt hatte, glaubte sie, verstanden zu haben, was passiert war:
Der Mogul dieser Provinz, Khan Bahadur Ammar Karim, hatte sich geärgert, weil die Faktorei die geforderten Steuern nicht
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