Die Hexengabe: Roman (German Edition)
schlecht gelauntes Kind zu trösten.
Während sie die Treppen zu ihrer elenden Kammer hinaufstiegen, schwiegen sie. Rosa legte Kaspar auf eines der schmalen Betten und ließ sich auf die Bank am Fenster fallen, auf der Arevhat schon Platz genommen hatte.
»Ich wünschte, ich könnte mit Luis reden, ihm alles erklären.«
Arevhat stöhnte.
Rosa sah Arevhat unverwandt ins Gesicht. »Ich weiß ja, du glaubst nicht daran, dass es Liebe zwischen uns geben kann, aber das ist nur, weil du sie noch niemals erlebt hast.«
Arevhat biss sich auf die Lippen, doch dann brach es aus ihr heraus, dabei sickerte eine Träne aus ihrem linken Auge, die sie wütend wegwischte. »Nein, so etwas wie du, das habe ich noch nie erlebt, natürlich nicht. Ich weiß nur, wie es ist, wenn du von deiner Mutter weggerissen und dein Leib an einen Herrscher verkauft wird. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn du unter Qualen ein Kind gebierst und dieses Kind, das du mehr liebst als dein Augenlicht, mehr als dein Leben, wenn dieses unschuldige Wesen vergiftet wird und es unter grauenhaften Qualen in deinen Armen sterben muss.« Ihre Stimme wurde tonloser. »Und du willst mir sagen, ich wüsste nicht, was Liebe ist.«
Rosa betrachtete Arevhat, als sähe sie sie zum ersten Mal. Sie spürte, wie sich Schamesröte in ihrem Gesicht ausbreitete.
Seit sie Arevhat im Harem getroffen hatte, waren ihre Gedanken immer nur um sich selbst gekreist. Darum, ob Dorothea ihr wegen des Briefs helfen konnte, wie es Luis ginge und ob sie es rechtzeitig zurück nach Hause schaffen würde. Was ihre Mutter zu Dorotheas Tod sagen würde, und ob sie mit Kaspar zurechtkäme.
Arevhat war ihr mehr wie ein notwendiges Übel erschienen, das sie um Kaspars willen auf sich nehmen musste. Nicht einmal hatte sie sich gefragt, was in Arevhat vorging. Nicht einmal, als Arevhat so seekrank wurde, dass sie jeden Tag mehr abmagerte. Sie hatte es selbstverständlich gefunden, dass Arevhat sich um Kaspar kümmerte und sich nützlich machte. Und plötzlich flammte eine schreckliche Einsicht in ihr auf: Sie hatte Arevhat nicht anders behandelt als eine Sklavin. Selbst Nandi und Usha hatte sie mehr Respekt entgegengebracht, und niemals hätte sie mit Siranush so abschätzig gesprochen.
»Es tut mir leid, Arevhat. Bitte verzeih mir.«
Arevhat zuckte mit den Schultern.
»Ich werde das wiedergutmachen. Ich verspreche es.«
»Wir sollten jetzt besser darüber reden, wie wir herausfinden, was mit dem Gold ist.«
»Arevhat!« Rosa wollte ihre Vergebung.
»Mein Vorschlag ist, dass wir vor der Dämmerung zum Hafen gehen und nachschauen. Kannst du schwimmen?«
»Nein.« Rosa dachte daran, dass Siranush es ihr hatte beibringen wollen.
»Aber ich kann es. Mein Vater hat es mir beigebracht, damals im Sewansee. Ich werde hinuntertauchen und sehen, ob wir Glück haben.«
Rosa musste sich damit zufriedengeben, denn Arevhat legte sich wortlos zum Schlafen nieder.
In der Dämmerung des nächsten Morgens tauchte Arevhat, und es gelang ihnen, Luis’ Gold aus dem Wasser zu bergen, bevor Neugierige auftauchten.
Danach warteten sie wochenlang ungeduldig auf ein Schiff, das in Richtung Kapverden segelte. Rosa bemühte sich, Arevhat mit Respekt zu behandeln, und sie war glücklich, als sie merkte, dass sie sich näherkamen. Manchmal konnten sie zusammen über etwas, das Kaspar angestellt hatte, so herzhaft lachen, dass es sich für Rosa fast anfühlte, als ob sie wieder eine Schwester hätte. Sie brachte Arevhat die Kartenspiele bei, die ihr Dorothea noch nicht gezeigt hatte, und Arevhat führte Rosa ins Schachspiel ein. Und erst nachdem Rosa mit der Unterstützung von Kaspar das erste Mal ein Remis gegen Arevhat erzielt hatte, landete endlich ein Schiff im Hafen, das sie nach Europa mitnehmen konnte.
52. Kapitel
W eil ich in dieser stickigen Julinacht nicht schlafen konnte, hörte ich als Erster, wie jemand gegen die Tür hämmerte. Doch ich blieb liegen und lauschte, als Karl den Riegel zurückschob und fragte, wer um diese gotterbärmliche Nachtzeit Einlass verlangte.
Kurze Zeit später klopfte er an meiner Kammer. »Eilbrief aus Venedig.«
»Komm ruhig herein«, rief ich Karl zu und fand, dass ich mich erstaunlich gelassen anhörte, obwohl sich mein Puls gerade verzehnfacht hatte. Dabei hatte ich gehofft, alles wieder unter Kontrolle zu haben. Ich hatte dieser Marie-Christin viel Geld gegeben, damit sie sich weiter weigerte, den Alten zu heiraten, und ich hatte wegen der Zapfin
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