Die Hexengabe: Roman (German Edition)
wichtig war. Absolut klar war natürlich, dass man den männlichen Erben sehen wollte, doch es war mir unverständlich, was ein paar Tage hin oder her daran ändern sollten, dass Kaspar der rechtmäßige und wahre Erbe war. Was änderte eine Woche oder ein Monat an dieser Tatsache? Der Großmogul in Nürnberg schien nicht verstanden zu haben, dass Zeit unendlich war und niemand Herr über die Zeit war – und vor allem, dass auch das Verrinnen von Zeit niemals etwas an den unumstößlichen Wahrheiten änderte.
Aber wenn ich Rosa richtig verstanden hatte, dann glaubten die Herrscher dieser Nürnberger Gläubigen, dass sie das Recht besaßen, die Wahrheit von der Zeit abhängig zu machen. Wie es schien, waren die Großmogule aus Dorotheas Heimat nicht sehr weise.
Mit der Zeit fand ich trotz meiner Übelkeit heraus, dass es nicht nur diese Merkwürdigkeit war, die Rosa quälte. Sie wurde noch von anderen düsteren Ahnungen geplagt.
Sie fragte sich immer wieder, was Dorothea mit dem Geheimnis ihres Blutes gemeint haben könnte. Manchmal starrte sie mich an, als ob ich mehr wissen müsste, aber Dorothea hatte mir nichts darüber erzählt. Sie hatte mir von ihrem Vater vorgeschwärmt, der sich nach dem frühen Tod ihrer Mutter so liebevoll um sie gekümmert hatte. Und auch ihre Stiefmutter hatte sie oft erwähnt, dabei brachte sie immer wieder ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, was wohl der Grund für ihren Vater gewesen war, sie zu heiraten. Rosas Mutter sei so vollkommen anders gewesen als ihr Vater. Dorothea vermutete, hierin läge vielleicht der Grund für deren leidenschaftliche Liebe. Denn dass sie leidenschaftlich gewesen sein musste, davon war Dorothea überzeugt, weil Rosas äußerst fromme Mutter schon vor der Hochzeit schwanger gewesen war. Aber würde es Rosa weiterbringen, wenn ich ihr das verriete? So wie ich Dorothea verstanden hatte, war es auch in Nürnberg die allergrößte Schande, nicht jungfräulich in die Ehe zu gehen.
Außerdem sorgte sich Rosa noch um einen Mann, der nicht ihr Mann war, ein Mann, dem sie sich hingegeben hatte, einfach so, ohne über den Preis dafür nachzudenken. Wie konnte Rosa ihm ihren Leib schenken und nun auf Liebe hoffen? Nicht einmal die dümmste Sklavin wäre so dämlich, das von einem Mann zu erwarten. Und wenn Rosa geradezu schwärmerisch von Liebe und Sehnsucht sprach, wollte ich sie anschreien, sie warnen. Liebe gab es nur dort, wo die Lust keine Rolle spielte. Liebe war zwischen Mutter und Kind, aber nicht einmal die war beidseitiger Natur. Wie viele Männer im Reich des Großmoguls hatten sich ihrer Mutter oder ihres Vaters entledigt, wenn sie ihnen im Weg standen. Vielleicht gab es Liebe manchmal zwischen Geschwistern, selten zwischen Freunden, aber niemals dort, wo Begehren eine Rolle spielte.
Aber fast immer, wenn ich zu dieser Rede anheben wollte, kam ein Schwall Übelkeit über mich.
Mir fehlten die Sklavinnen mit ihren nützlichen Handreichungen, und mir fehlte vor allem sauberes Wasser. Dieser Schmutz war unglaublich – wie konnten die Menschen das nur ertragen? Und das, was man auf diesem Schiff Essen nannte, war schlimmer als das, was man im Harem den Ratten überließ. Hier aß man verdorbene Speisen und machte sich nicht einmal die Mühe, ihren Geschmack mit Gewürzen zu verbessern. Doch all das waren nur die leiblichen Unannehmlichkeiten, die anscheinend der Preis für die Freiheit waren. Was mich allerdings wunderte, war, dass sich meine Seele nicht anders fühlte als vorher im Harem, was mich zu der Frage brachte, worin meine Freiheit denn nun eigentlich bestand. Gewiss, ich musste hier niemandem zu Diensten sein. Wenn der Kapitän mich hätte beschlafen wollen, so hätte ich ihm ins Gesicht spucken dürfen, ohne Folgen. Und ich konnte gehen, wohin ich wollte.
Aber in meinem Herzen konnte ich kein anderes Gefühl entdecken. Ich war nicht glücklicher oder auch nur wohler. Das mochte vielleicht auch daran liegen, dass ich beständig von Gedanken an Dorothea heimgesucht wurde und meine Trauer alles andere unter sich begrub. Manchmal wünschte ich, ich wäre bei ihrer Leiche geblieben und hätte dafür gesorgt, dass sie anständig beerdigt wird. Immerhin war ich froh, dass ich auch eine Christin war und es also sicher sein konnte, dass wir uns nach dem Tod wiedersehen würden. Wenn Doro nun eine Muslimin gewesen wäre oder eine Hindu, dann wäre unsere Trennung für immer.
Manchmal allerdings drängte sich mir der Gedanke auf, dass es
Weitere Kostenlose Bücher