Die Hexengabe: Roman (German Edition)
sie halb tot waren. Hass strömte durch ihren Körper, befeuerte ihre Muskeln. Sie zitterte und wünschte sich ein Gewehr, mit dem sie hinausstürmen und den Kerl abknallen könnte wie einen toll gewordenen Hund.
»Was ist mit dir?«, fragte Siranush.
»Ich kenne diese Männer.« Rosa erstickte fast an ihren Worten. Nein, sie kannte die nicht, sie wusste nur, wozu sie fähig waren.
Siranush legte ihr die Hand auf den Arm und nickte ihr zu. »Das waren die, die dich so zugerichtet haben?«
»Ich muss …«
»Jetzt kannst du gar nichts tun.« Siranush legte beschwörend ihren Zeigefinger an die Lippen.
»Doch! Ich muss wissen, wie der Mann aussieht, ich habe ihn nur gehört … und was ist …« Rosa schlug sich die Hand vor die Stirn. »Was ist, wenn er mich morgen auf dem Karren erkennt? Er hat mich gesehen, es war zwar schon dunkel, aber sie hatten Fackeln, und er weiß auch von meiner Hexenhand. Wenn er mich findet, dann wird er alles tun, um mich zu töten.«
Rosa schluckte, denn ihr war wieder eingefallen, was der andere gesagt hatte: Sie hatten ihren Auftrag erfüllt und deshalb genug Geld fürs Hurenhaus.
»Sie sollten mich und Giacomo aus dem Weg räumen. Aber ich lebe noch!«
Siranush sprach beinahe tonlos. »Dann sollten wir diesen Mann töten.« Sie sah Rosa fest in die Augen, griff in ihren Ärmel und zog einen Dolch heraus, dessen Griff reich mit Steinen besetzt war, die das schwache Licht der kleinen Laterne im Karren auffingen und widerspiegelten.
Rosa, die eben noch hinauslaufen und den Mann hatte erschießen wollen, fühlte sich angesichts von Siranushs Dolch auf einmal sehr unbehaglich. Der Gedanke, diesen Dolch in das Herz eines Menschen zu stoßen oder jemandem die Kehle durchzuschneiden, schien ihr jetzt, während sie im Karren saß, völlig undenkbar. Ein leichter Würgreiz schnürte ihr die Kehle zu.
Denk an Giacomo, denk daran, wie die Geier seine Augen gefressen haben!, mahnte sie sich. Siranush hatte recht – sie hatten den Tod verdient!
Die Männer draußen lachten schon wieder, offensichtlich urinierte der eine der beiden lustige Bilder in den Staub.
»Wenn das ihr Auftrag war«, Siranush klang sehr ernst, »dann wird man den an sie gezahlten Lohn wieder zurückfordern, sobald herauskommt, dass du am Leben bist, und das wird die beiden nicht sonderlich glücklich stimmen. Komm ihnen zuvor, töte sie!«
»Aber dann bin ich nicht besser als diese Männer!«
»Es ist besser, am Leben zu sein als tot.« Siranush lachte, aber sie klang schrecklich bitter, und das erinnerte Rosa an die Narben auf Siranushs Rücken.
»Was willst du denn sonst tun? Sie etwa dem Büttel übergeben?« Siranush spuckte aus. »Du denkst, der Richter glaubt einer wie dir, die in der Welt herumzieht, ohne Papiere oder Verwandte? Glaubst du das im Ernst?«
Als ihr Siranush den Dolch reichte, zögerte Rosa, doch dann griff sie danach. Unerwartet schwer und kalt, zwang er ihre Hand zum festeren Zugreifen.
»Damaszenerstahl.«
Aus dem stolzen Ton der Armenierin schloss Rosa, dass dieser Stahl etwas ganz Besonderes sein musste.
»Tu’s jetzt gleich! Denk nicht zu viel darüber nach!«
»Warum?«
»Wenn du zu lange zögerst, wird dein Mitleid siegen. Gott
hilft denen, die sich selbst helfen. Denk daran, was der Mann dir angetan hat, denk daran, was er den anderen angetan hat. Tu es, bevor er dich tötet!«
Beklommen hob Rosa ihren Arm, spürte dabei noch immer leichten Schmerz im Rücken. Sie zielte mit dem Dolch in einer festen Stoßbewegung auf Siranushs Brust.
Diese setzte sich auf, und ihre Stimme klang zornig: »Lächerlich! So tötest du nicht einmal eine Katze.«
Plötzlich wurde Rosa klar, dass sie die Männer nicht mehr hören konnte. Sie rutschte nach vorne und lugte vorsichtig aus dem Spalt der Plane. Das hätte sie vorhin schon tun sollen, anstatt wie ein ängstliches Kaninchen zu erstarren.
Aber draußen war es dunkel, und sie konnte nicht mal mehr einen Schatten ausmachen.
»Porca miseria!«, fluchte sie. »Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie er aussieht. Ich muss hinter ihm her. Ich glaube, sie sind rüber zum Gasthof am Kornmarkt gegangen.«
»Das klingt logisch, ich komme mit.«
Rosa gab den Dolch zurück und schlüpfte aus dem Karren. Siranush verstaute die Waffe wieder in ihrem Ärmel und folgte ihr.
Sie waren noch keine drei Schritte gegangen, als plötzlich die Glocken zu läuten begannen.
Rosa zuckte zusammen. »Was ist das? Was bedeutet das?«
Siranush legte
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