Die Hexengabe: Roman (German Edition)
vorgelesen, alle zusammen hatten einen Psalm angestimmt, und schließlich hielt der Kapitän eine langweilige Ansprache über Moral und Disziplin an Bord.
Rosa war allein bei der Erinnerung an ihr ungebührliches Verhalten dem Kapitän gegenüber ganz mulmig geworden. Zum Glück verbrachte der Kapitän, anders als sein Stellvertreter, der Erste Steuermann, die meiste Zeit in seiner Kajüte.
Nach der Ansprache des Kapitäns wurden die Ankerketten gelichtet, und unter feierlichem Salut waren die beiden Schiffe endlich ausgelaufen.
Seitdem hatten sie gute Fahrt gemacht, weil ein stetiger Wind ging, der auch für einen regen Wellengang sorgte. Der Wind verjagte alle Wolken, sodass jeden Tag eine starke Oktobersonne niederbrannte und für eine angenehme Wärme sorgte, die die feuchte Seeluft für Rosa gut erträglich machte.
Wolfhardt hatte ihr prophezeit, dass sie als Landratte seekrank werden würde, aber Rosa ging es prächtig. Das Stampfen und Schwanken des Schiffes schien sie zu beleben, und je stärker der Seegang, desto beschwingter fühlte sie sich.
Allerdings hatte sie große Angst, den Abort zu benutzen, der vorne am Bug zu beiden Seiten des Schiffsschnabels eingerichtet war. Dort befanden sich mehrere Abtritte, in der Art winziger Balkone mit einem Rost, der über der Bordwand hing. Ein langes Tau schleppte eine Quaste durchs Wasser, mit der man sich das Gesäß wieder säubern konnte.
Morgens bildeten sich dort lange Schlangen, und wehe dem, der zu lange brauchte. Rosa war klar, dass sie diesen Abtritt nicht benutzen konnte, ohne ihr Geschlecht zu verraten. Es gab zwar für jeden an Bord auch ein Urinal, ein kleines Gefäß aus Terrakotta, falls man erbrechen oder nachts urinieren musste, aber auch das war für Rosas Zwecke unbrauchbar.
Deshalb hatte sie sich eine kleine Schüssel besorgt, dazu hatte sie allerdings den Koch mit einer Dosis Veilchensirup aus dem Medizinschrank bestechen müssen. Denn Geschirr war Mangelware, weil nur für den Kapitän und seine Offiziere Geschirr benutzt wurde. Der Rest der Mannschaft aß aus dem großen Topf, in dem das Essen auch gekocht wurde. Meistens ein Eintopf aus Erbsen, Bohnen, Reis oder Graupen, manchmal verfeinert mit Pökelfleisch, Sauerkraut, Rosinen, Dörrpflaumen oder Stockfisch.
Nachdem die Gesundheit von Wolfhardt wieder völlig hergestellt war, begann er sich zu langweilen und trank so viel, dass er sich kaum den Kranken widmen konnte. An genau so einem Tag hatte er Rosa grob angefahren, weil sie sich dagegen verwahrt hatte, ihre Handschuhe auszuziehen.
Wolfhardt fand, sie müsste die Kranken mit der Hand berühren, weil das der Heilung förderlich sei. Rosa weigerte sich glattweg, voller Angst, er könnte ihr die Handschuhe einfach wegreißen. Er hatte es schließlich akzeptiert, aber fünf Tage nicht mit ihr gesprochen.
Weil ein einziger Schiffschirurg für so ein großes Schiff bei Weitem nicht ausreichte, vor allem nicht, wenn er ständig betrunken war, musste Rosa Wolfhardt nicht nur bei den Operationen zur Hand gehen, sondern auch selbstständig Arzneien austeilen. Er erwartete außerdem von ihr, dass sie lernte, welche Mittel bei welcher Krankheit heilend wirkten.
Jeden Abend fragte er sie ab, was Rosa viel Vergnügen bereitete, weil es sie von ihren sich ständig im Kreis drehenden Sorgen lenkte.
Sobald sie in ihrer Hängematte lag, dachte sie an ihre Schwestern, an ihre Mutter und an Toni. Fragte sich, ob die Druckstöcke zum Geldverdienen ausreichten, hoffte, dass alle gesund waren. Und wenn sie lange genug darüber gegrübelt hatte, drehten sich ihre Gedanken um Indien und das, was sie dort vorfinden würde.
Sie versuchte immer wieder, die Männer an Bord über Indien auszufragen, doch mit bescheidenem Erfolg. Sehr viel mehr, als dass das Essen gut sei und die Weiber wunderschön, hatte sie noch nicht herausfinden können.
Und schließlich wünschte sie sich, sie wäre schon auf der Rückreise. Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie das Schiff geschoben, damit es schneller vorwärtskam.
Heute war Wolfhardt guter Dinge und nur leicht angetrunken, weshalb er sie die verschiedenen Abführmittel erläutern ließ. Das Scheißen war eins seiner Lieblingsthemen, denn seiner Meinung nach hielt nur eine ordentliche Verdauung den Körper gesund. Und weil die meisten Besatzungsmitglieder ständig an Verstopfung litten, waren Abführmittel für ihn absolut unverzichtbar.
»Diaprunus solutivus?«, fragte er.
Rosa suchte das Glas mit der
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