Die Himmelsbraut
Augen auf und bewegte die Lippen. Camilla von Grüningen beugte sich über sie.
«Sprich, mein liebes Kind. Was ist dir geschehen?»
Magdalenas helle Stimme durchdrang die Kammer, als käme sie von ferne her. «Durch Dornbüsche bin ich geschritten, durch Gassen von Speeren und Lanzen, doch mein Leib ist wie Kristall, so licht und schwerelos.»
Jede im Raum hielt den Atem an.
«Weiter, mein geliebtes Kind Gottes.»
Aber mehr kam nicht. Magdalena hielt Augen und Mund wieder geschlossen. Sichtbar verzückt küsste Mutter Camilla sie auf die Stirn, erhob sich, schlug das Kreuzzeichen und wandte sich zu den anderen um.
«Der Allmächtige hat sie mit Gnade durchgossen! Dass ich das noch einmal erleben durfte, meine geliebten Schwestern in Christo! Bereits in Marienau hatte sie beglückende Visionen erfahren, indessen», sie machte eine bedeutsame Pause, «indessen hatte die dortige Äbtissin in ihrer Verblendung unsere junge Mitschwester darob ermahnt und aufs härteste gerügt, anstatt diese ersten Zeichen göttlicher Erleuchtung zu hegen und zu pflegen wie einen zarten Pflanzenschössling. Aber die himmlische Kraft ist stärker, wie ihr nun alle erlebt habt. Was für ein Geschenk! Könnt ihr ermessen, was dies für Liebfrauenwalde bedeutet?»
Da niemand antwortete, stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
«So lasst mich nun allein mit Schwester Maria Magdalena.»
Gehorsam schoben sich die Frauen eine nach der anderen durch die Tür nach draußen. Antonia ging als Letzte. Sie sah noch, wie sich Camilla von Grüningen wieder vor die Bettlade kniete, ganz in Magdalenas Anblick versunken, und ihr die Hände mit Küssen bedeckte.
33 Liebfrauenwalde, Spätsommer 1524
I n kürzester Zeit wusste die gesamte Klosterfamilia, dass in ihrer Mitte eine Begnadete lebte, die allein beim Anblick der Leiden Christi die Schmerzen am eigenen Leib verspürte und somit eins wurde mit Gottes Sohn und dem Allmächtigen.
Die Chorzeiten, selbst die nächtlichen, wurden von den Nonnen plötzlich wieder eingehalten, sie alle suchten Magdalenas Nähe, sogar im Kreuzgang oder während der Arbeitsstunden. Antonia stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sich ihre Schwester hiervon nicht beeindrucken ließ. Sie blieb eher schweigsam und ließ sich auch nicht auf Mutter Camillas Ansinnen ein, künftig die Mahlzeiten im Priorat einzunehmen. Was zur Folge hatte, dass die Priorin und wenig später auch die Subpriorin zu Mittag wieder im Refektorium aufkreuzten und Magdalena drängten, die Tischlesungen zu halten.
Auch anderweitig erfuhr das Klosterleben durchgreifende Veränderungen. Kein Fremder, erst recht kein männliches Wesen, mit Ausnahme ihres Priesters und Beichtigers, durfte mehr den Klausurbereich und das Novizenhaus betreten. Dafür verließen die Nonnen nun an den Sonn- und Feiertagen die Nonnenempore und feierten das Hochamt unten im Hauptchor, vom Volk nur durch einen niedrigen, rasch errichteten Lettner getrennt. Alle, die den Gottesdienst besuchten, sollten Magdalena sehen und hören dürfen, was im Übrigen jeglicher Regel widersprach. Doch obgleich die Priorin Magdalena ausdrücklich ermunterte, sich während der Gesänge und Gebete ganz und gar in die Leiden des Herrn zu vertiefen, sie darüber hinaus, zur Steigerung der Empfindsamkeit, zu strengem Fasten und nächtlichen Exerzitien anhielt, geschah erst einmal gar nichts. So ließ der Andrang an Kirchgängern bald schon sichtlich nach.
Da halfen auch all die Wundergeschichten nichts, die Pfarrer Bonifaz dem Kloster- und Landvolk in deutscher Sprache predigte. Derweil zeigte sich Camilla von Grüningen zusehends ungeduldig darüber, dass ihr Schützling keinerlei Anstalten mehr machte, sich wie eine wahrhaftige Visionärin zu verhalten.
Ganz offen sprach sie dies eines Tages im Kapitel an.
«Ich hatte dir, liebe Schwester Maria Magdalena, doch von jener seligen Dominikanerin erzählt, gestern Nachmittag in deiner Zelle. Erinnerst du dich?»
«Ja, ehrwürdige Mutter, ich erinnere mich.»
Antonia, die neben ihrer Schwester auf der Bank saß, bemerkte, wie Magdalenas Hände unter dem langen Ärmelstoff zu zittern begannen. Dass die Priorin in letzter Zeit jeden Nachmittag mit ihr allein verbrachte, tat Magdalena offensichtlich alles andere als gut. Für den Rest des Tages nämlich wirkte sie dann aufgewühlt und fahrig.
«So will ich es euch andern auch erzählen», fuhr Mutter Camilla fort. «Jene Nonne namens Schwester Heiltraut war schon als kleines Kind von Gott mit
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