Die Himmelsbraut
und Rechnen auch noch Latein lernen sollte. Jetzt war sie froh darum. Sie hatte wenig Mühe, die Bibel oder die
regula benedicti
, die Benediktusregel, zu verstehen und sich im Unterricht auf Lateinisch verständlich zu machen. Aus diesem Grund zeigte sich die Magistra ihr gegenüber auch weniger streng. Nur selten bekam Antonia mal ihr Stöckchen auf dem Handrücken zu spüren, und in die Ecke war sie noch nie gestellt worden.
Auch wenn Antonia ihre Muhme Petronella von Landeck, von den Mädchen heimlich «Landschreck» genannt, genauso wenig mochte wie einst ihr Kammerfräulein, besuchte sie nach wie vor gerne die Schulstunden. Sie waren zwölf Schülerinnen, zehn Novizinnen und sie beide als Kandidatinnen. Mit den dicken Kerzen auf jedem Schreibpult war die Schulstube selbst jetzt im Winter licht und einigermaßen warm, während man in den übrigen Räumen vor Kälte erstarrte. Der Besuch der Wärmestube, die im Winter Tag und Nacht beheizt wurde, war nämlich nur für kurze Augenblicke erlaubt. Doch das war es nicht allein. Antonia gefiel es, mit ihrem Griffel schwungvolle Buchstaben über die Wachsschicht ihrer Schreibtafel zu ziehen, sie mochte die Klarheit der lateinischen Sprache, und sie liebte es, lauthals zu singen. Letzteres brachte ihr allerdings hin und wieder besagte Tatzenhiebe ein.
«Freust du dich auf heute Nachmittag?», fragte sie Vrena auf dem Weg zum Mittagessen.
Vrena nahm ihre Hand und grinste. «Angenehmer als arbeiten ist es allemal. Wir müssen das mit dem Lernen ja nicht so ernst nehmen.»
Zu ihrer Enttäuschung erwartete sie in der Schulstube eine Nonne, die ihnen als Aufseherin zugeteilt war. Sie übergab ihnen wortlos ihre Schreibtafeln, dann holte sie sich selbst ein dickes Buch aus dem abschließbaren Schrank und ließ sich am Schreibpult der Magistra nieder, das als einziges eine gepolsterte Sitzbank hatte.
«Entzündet eure Kerzen und beginnt. Ich will nichts andres hören als lateinische Grammatik.» Sie drehte die Sanduhr vor sich um, setzte eine gestrenge Miene auf und starrte die beiden an.
«Was zuerst?», wandte sich Antonia an ihre Freundin. «Deklination oder Konjugation?»
«Das ist mir gleich.»
«Dann Konjugation. Fangen wir mit dem einfachsten an, den regelmäßigen Verben im Präsens. Erst sagst du sie auf, dann schreibst du sie nieder.»
«Zu Befehl, ehrwürdige Schwester Magistra.»
«Das Verb amare – was bedeutet das?»
«Lieben?»
«Richtig.»
«Amo – amas – amat … amamis?»
«Falsch. ‹Wir lieben› heißt: amamus. Von vorne.»
Vrena seufzte.
«Amo – amas – amat. Amamus – amatis – amant?»
«Gut. Jetzt schreib es auf.»
Sie wurden von einem lauten Schnarcher unterbrochen. Antonia traute ihren Augen nicht: Die Aufseherin war eingeschlafen, ihr Kopf lag mitten auf dem aufgeschlagenen Buch.
Vrena begann laut zu kichern.
«Lass das», flüsterte Antonia. «Sonst wacht sie auf. Los jetzt, schreib.»
«Du bist ja schlimmer als die alte Landschreck.» Lustlos nahm Vrena ihren Griffel zur Hand und tat wie ihr geheißen.
«Was schreibst du da? Doch nicht
armare
– das heißt bewaffnen. Das R muss weg.»
Vrena verzog unwillig den Mund. «Vielleicht sollte man sich in der Liebe ja bewaffnen. Jedenfalls in der Liebe zu einem Mann.»
«Was redest du da? Schreib weiter. Ja, so ist es richtig.»
«Hast du schon mal einen Mann geliebt?», fragte Vrena unvermittelt.
«Ich weiß nicht …», erwiderte Antonia. Ein warmes Gefühl fuhr ihr in die Magengegend, als sie an Phillip dachte.
«Und fleischlich?»
«Bist du von Sinnen?», brauste sie auf.
«Das bedeutet also nein. – Ich sag dir was, Antonia, für den Fall, dass du keine Nonne wirst: Lass dich niemals drauf ein. Es ist ganz und gar ekelhaft.»
Eine Woche nach Weihnachten rief die Äbtissin sie beide zu sich in ihr Schreibzimmer.
«Es geht um euer Noviziat», begann sie ohne Umschweife. «Setzt euch.»
Gehorsam nahmen sie auf der Holzbank Platz. Antonia hatte diese Unterredung viel früher erwartet, schließlich waren sie jetzt nahezu ein halbes Jahr hier in Marienau. Als könnte Mutter Lucia ihre Gedanken lesen, sagte sie:
«Ihr mögt euch wundern, dass ich jetzt erst darauf zu sprechen komme. Doch bei dir, liebe Vrena, war ich mir lange Zeit unsicher. Zu rastlos und impulsiv, zu leichtsinnig erschienst du mir, um dich in die Strenge klösterlichen Lebens einzufügen. Manch närrische Grillen hast du schon an den Tag gelegt, wie ich von der Laienmeisterin und eurer
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