Die Himmelsleiter (German Edition)
größten Hörsaal der Universität hielt. Hellbrauner Anzug, Krawatte, graues fliegendes Haar, auf der blassen Nase eine unförmige Kassenbrille. Er mochte an die Sechzig sein. Wie einen Schild trug er eine dicke Aktentasche vor sich her.
Der Sto ßtrupp blieb unmittelbar vor der ersten Reihe der Sitzenden stehen. Die Blockadebrecher, darunter einige Korpsstudenten, blickten unentschlossen auf uns hinab. Der Professor begann, halblaut auf die ersten Studenten einzureden.
Die Wortfetzen, die zu mir durchdrangen, klangen wie: "Darf ich Sie bitten, mich durchzulassen. Ich mu ss Sie dringend auffordern, den Weg freizugeben." Trotz seiner Beherrschtheit, war ihm die Erregung anzusehen.
Die Menge zischte wie eine Schlange, und als der Professor sich einen Weg durch die dicht Sitzenden bahnen wollte, erschollen laute Rufe der Emp örung. Es gab eine Rangelei, bei der er fast zu Boden gegangen wäre. Auf unsicheren Beinen wich er ein paar Meter zurück. Er atmete heftig.
"Das ist Hausfriedensbruch! Jawohl, Hausfriedensbruch!" Es klang, als sei ihm pl ötzlich der richtige Paragraph eingefallen. Vielleicht gab er Strafrecht.
"Friede den H ütten! Krieg den Palästen!" brüllte jemand zurück, andere lachten.
"Meine Damen und Herren!" Seine Stimme überschlug sich. "Zum ersten Mal seit dreißig Jahren wird ein deutscher Professor mit Gewalt daran gehindert, seine Vorlesung zu halten!"
"Pfuuui!" erscholl es prompt vielstimmig. Von verschiedenen Seiten wurde gerufen: "Scheiß-Freiheit der Lehre." "Spar dir den Käse!" "Dich hätte vor dreißig Jahren niemand abgehalten." "Verpiss dich!"
Der Jura-Professor machte kehrt und strebte an der Spitze der Studienwilligen irgendeinem Ausweichquartier zu.
Nach diesem großartigen Sieg hatte sich die Menge bald zerstreut. Niemand rechnete damit, dass es zu einem Polizeieinsatz kommen könnte. Nur ein kleiner Rest blieb diskutierend auf den kalten Steinplatten sitzen.
Auch wir hatten irgendwann genug. Ich hatte Alessandra schon überredet, mit mir in die Cafeteria zu kommen, als Altomonte unverhofft vor uns stand. Er war aus dem Gewusel ringsum aufgetaucht, ohne dass wir hätten sagen können, woher er gekommen sei. Vielleicht hatte er die ganze Zeit irgendwo im Hintergrund gestanden und die Szene beobachtet. Das passte zum konspirativen Flair, mit dem er sich neuerdings umgab.
In seinem Verhalten hatte sich eine Wandlung vollzogen. Vom skeptischen Beobachter war er zum akribischen Kundschafter avanciert. Auch wenn ich mich manchmal fragte, ob das tats ächlich ein Fortschritt war, erschien er jetzt beteiligter. Wo immer sich etwas tat, Altomonte drückte sich in der Nähe herum und betrieb sorgfältigste Freund- und Feindaufklärung. Auf Demonstrationen zählte er die Teilnehmer. Zeigte sich Polizei, hatte er uns längst über Stärke und Ausrüstung informiert. Er konnte genau angeben, in welchen Seitenstraßen wie viele Mannschaftswagen standen und welche der Herren mittleren Alters am Straßenrand Zivilbeamte oder tatsächlich neugierige Touristen waren. Er notierte die Nummern der Zivilfahrzeuge, postierte sich vor dem Polizeipräsidium, um verdächtige Fahrzeugbewegungen zu registrieren, oder fuhr mit seinem R4 in der Gegend herum, um sich ein genaues Bild über anrückende Verstärkungen zu machen. Obwohl manchmal ein wenig als wichtigtuerisch belächelt, gehörte er bald dazu. Als Stratego-Max wurde er in der Szene bekannt, und seine Dienste wurden allseits dankbar angenommen.
Im Treppenhaus wurde heftig diskutiert. Gut zwanzig Kommilitonen standen auf dem Treppenabsatz, und es wurde mit den Armen herumgefuchtelt oder versucht, sich mit den besseren Argumenten oder der lauteren Stimme durchzusetzen. Neugierig gesellten wir uns dazu. Ich fragte einen rotblonden H ünen mit schulterlangem Haar, um was es gehe. Der SDS habe ein Ho Chi-Minh Poster aufgehängt - wir hatten es übersehen oder uns nichts dabei gedacht -, einige Kommilitonen bestünden nun darauf, dass es wieder abgehängt werde. Etwas ratlos verfolgten wir die Diskussion. Es ging offenbar darum, was der Vietnam-Krieg mit der Universität, den Notstandsgesetzen und mit diesem und jenem zu tun habe. Trotz ihrer Wortgewalt standen die SDSler auf verlorenem Posten.
Alessandra schnaubte w ütend: "Questi stupidi non hanno capito niente!" Und ich fragte mich, was diese Idioten nicht verstanden hatten.
Am Abend w ährend der Vollversammlung sollte ich an diese Bemerkung zurückdenken. Wie an jenem Osternachmittag,
Weitere Kostenlose Bücher