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Die Himmelsleiter (German Edition)

Die Himmelsleiter (German Edition)

Titel: Die Himmelsleiter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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als sie uns die Nachricht vom Attentat auf Dutschke überbracht hatte, geschah es immer häufiger, dass so etwas wie Wut, Hass geradezu, aus ihr herausbrach. So sanftmütig sie auf den ersten Blick wirkte, so heftig schien es manchmal unter dieser Oberfläche zu brodeln. Nie ging es ihr schnell genug. Sie verachtete die Halbherzigkeit, die mühsamen Kompromisse, die immer wieder geschlossen werden mussten. Über die Unentschlossenheit der anderen konnte sie regelrecht verzweifeln.
    Als sie mitten im Tumult der Diskussion pl ötzlich aufstand, um nach vorne zu gehen, dachte ich mir nichts dabei. Sie mochte einen Bekannten entdeckt haben, mit dem sie ein paar Worte wechseln wollte. Erst als ich erkannte, was sie tatsächlich vorhatte, erschrak ich. Die Neue Aula war zum bersten gefüllt. Altomonte war anderweitig beschäftigt, und so musste ich die Zahl der Anwesenden selbst schätzen. Es mochten zweitausend sein. Das Rednerpult wurde wie üblich von einer Menschentraube umlagert. Jeder schrie dem Diskussionsleiter seinen Namen, die Instituts- oder Gruppenzugehörigkeit zu. Es war ein mühsames, manchmal unmögliches Unterfangen auf die Rednerliste zu gelangen. Ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, schritt Alessandra durch die Gruppe hindurch, stieg zum Rednerpult hinauf und nahm das Mikrofon in beide Hände, als halte sie ein Kreuz. Niemand wagte, sie zurückzuhalten.
    "Genossen", begann sie. Sie sprach nicht sehr laut, und über den Saal senkte sich eine andächtige Stille. Selbst das Feilschen um die Listenplätze wurde für einige Minuten unterbrochen.
    "Ich habe Angst. Ich habe Angst, hier vorne zu stehen und vor so vielen Menschen zu sprechen." Sie packte es geschickt an. Obwohl die Subjektivit ät, die sie in die Waagschale warf, erst einige Jahre später zum Standardrepertoire solcher Auftritte gehören sollte, verfehlte sie auch an diesem Tag ihre Wirkung nicht. Ermunternder Beifall brandete auf.
    "Wenn ich es trotzdem tue", fuhr sie fort, nachdem der Beifall abgeebbt war, "dann vor allem aus einem Grund: Seit zwei Stunden diskutieren wir dar über, ob die Studentenschaft an der neuen Grundordnung mitarbeiten soll oder nicht. Als ob es darum ginge, hier und dort eine kleine Verbesserung durchzusetzen und mit diesem Feigenblatt dann dieses ganze repressive Machwerk zu legitimieren." Sie warf ihre Worte wie Fleischbrocken einer hungernden Meute zu, und der leichte Akzent, der sie untermalte, glich dem beruhigenden Gebrumme des Wärters. "Kommilitonen, Genossen, jetzt, zu dieser Stunde, stehen in Frankreich Arbeiter und Studenten gemeinsam auf der Straße und kämpfen. Das ist nicht die Stunde der Diskussion, das ist nicht die Stunde der Theorie! Das ist die Stunde der Tat!" Sie ließ die vielen Ausrufezeichen auf uns einwirken. "Ich weiß, wir alle haben gelernt zu reden, wir haben gelernt zu schreiben. Mehr können wir uns nicht einmal im Traum vorstellen. Die Welt aber, die wirkliche Welt ist dort draußen." An den Köpfen, die ihrem ausgestreckten Arm folgten, wurde deutlich, wie sehr sie uns in ihren Bann gezogen hatte. "Wenn wir es nicht schaffen, über unseren Schatten zu springen, wenn aus unseren ach so klugen Diskussionen, aus unserer unfehlbaren Theorie keine Praxis folgt, dann wird alles vergebens sein!"
    Sie kam zum eigentlichen Thema, sprach sich f ür einen Boykott der Grundordnung aus, und so eindringlich, wie sie dieses Mikrofon zwischen ihren Händen beschwor, so sehr schienen ihre Worte vielen im Saal unter die Haut zu gehen. Die Ablehnung, zu der der Vorschlag des SDS noch Minuten zuvor verurteilt gewesen schien, begann abzubröckeln. Längst war ich nicht mehr in der Lage, jedem einzelnen ihrer Worte zu folgen. Als habe sie mich in einen tranceartigen Zustand hineingeredet, war es, als empfänge ich ihre Botschaft auf direkterem Wege. Und wie sie dort oben stand in ihrer weißen Bluse, das schwarze Haar wie ein weiter Umhang, wie sie die Masse mit sanfter Stimme und sparsamen Bewegungen beherrschte, bewunderte ich sie. Aber es war mehr. Ich glaube, von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich sie liebte.
    "Doch das kann nicht alles sein", drang es wieder klarer in mein euphorisches Hirn. "La sst uns mit einer symbolischen Aktion beginnen! Lasst uns ein Zeichen setzen! Verbinden wir den Kampf gegen die Notstandsgesetze mit jenem gegen die Hochschulgesetze. Das ist eine Front, Genossen! Ich schlage vor, dass wir heute Nacht hierbleiben und die Universität besetzen." Ein Raunen kam auf.

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